From Stamford Bridge to Wembley
Ein Lied, viele Texte: „O Tannenbaum“ kann so viel mehr als „nur“ Weihnachtslied.
Sie ist eine der bekanntesten Melodien der Welt und wird heute vor allem mit dem Christfest assoziiert: „O Tannenbaum“. Die diversen Lyrics des Songs haben allerdings oft nicht sehr weihnachtlichen Charakter.
Ein Lied für kleine Kinder
Wer in der alten Liedersammlung des Schwäbischen Sängerbunds (Chorverbands) von 1879 blättert, stößt dort auf ein Liedchen, das jeder seit seiner Kindheit kennt: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter“. Das schlichte Werk war ursprünglich auch gar nicht für Erwachsene gedacht, sondern eben für kleine Kinder. Sein Schöpfer ist der Thüringer Ernst Anschütz (1780-1861), ein Zeitgenosse Silchers. Die Musikwelt verdankt ihm noch manch andere Gesänge, z. B. „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ und „Alle meine Entchen“.
Treue Blätter, untreue Mädchen
Anschütz selbst griff bei seiner Dichtung auf ein Werk des August Zarnack zurück, von dem er aber nur die erste Strophe übernahm. Zarnacks Text von 1820, der selbst auf noch älteren Quellen basiert, war allerdings weder für Kinder gedacht noch galt er dem Weihnachtsfest; er beklagte vielmehr die Untreue einer Geliebten:
O Mägdelein, o Mägdelein,
wie falsch ist dein Gemüthe!
Du schwurst mir Treu´ in meinem Glück,
Nun arm ich bin, gehst du zurück.
O Mägdelein, o Mägdelein …
Zarnacks Verse sind übrigens noch lange in Gebrauch geblieben, vor allem in studentischen Kreisen. Und sie waren Anreiz zu einer langen Reihe von Textpersiflagen, die in der Mitte des 19. Jahrunderts begann und bis zum heutigen Tag ununterbrochen weitergeführt wird.
Vom Gassenhauer zum Weihnachtslied
Während Zarnack pubertär über Untreue jammerte, betonte Anschütz pädagogisch kindgerecht die Treue. Zusammen mit der wohl ebenfalls von Anschütz geschaffenen Melodie wurde der „Tannenbaum“ dann allmählich zu einem Weihnachtslied. Das lag nicht zuletzt daran, dass gerade in jener Zeit der Christbaum groß in Mode kam. Im Angelsächsischen, wo die Tanne „fir tree“ heißt, hat man unseren „Tannenbaum“ dann auch kurzerhand zum „Christmas tree“ gemacht.
Unter den vielen Textvarianten und Persiflagen, die der „Tannenbaum / Christmas tree“ im Lauf der Zeit über sich ergehen lassen musste, sei hier nur eine von 1914 zitiert. Im „Kriegs-Weihnachtslied zu Ehren unserer Feldgrauen“ lautet die dritte Strophe:
„O Tannenbaum, o Tannenbaum
Wie brennen stolz die Kerzen!
So stolz, wie Deutschlands Krieger steh´n,
Die Keinem aus dem Wege geh´n!
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
So stolz wie deine Kerzen!“
Martialisch auch in englischer Sprache
In ihrem Inhalt nicht weniger martialisch ist eine weitere, diesmal englischsprachige Textversion des Lieds, die 1863 mit dem Titel „Maryland, my Maryland“ erschien. Mit „Mary“ ist hier nicht die Christkindmutter aus der Weihnachtsgeschichte gemeint, und mit dem besungenen „Land“ nicht das „Heilige“ im Nahen Osten. Der Song gilt vielmehr dem US-Staat Maryland, der seinen Namen der britischen Queen Mary (1609-1669) verdankt.
„My Maryland“ ist ein ziemlich aggressives Kampflied, mit dem die Konföderierten (Südtsaaten) im Amerikanischen Bürgerkrieg zur gewaltsamen Vertreibung der „despotischen“ Nordstaaten-Union aufriefen. Die Verse hatte 1861 James Ryder Randall geschaffen und zwei Jahre später mit dem Hinweis „Adapted an Arranged to the favorite German Melody `O Tannenbaum´“ veröffentlicht. Seit 1939 ist das kuriose Arrangement offizieller „State Song“ von Maryland, wegen seines militanten Inhalts inzwischen aber auch ziemlich umstritten.
Von Iowa bis Florida
„Maryland“ ist nicht das einzige Beispiel der „Tannenbaum“-Rezeption aus den Vereinigten Staaten, es gibt noch drei weitere. So schrieb Winifred Lee Brent Lyster 1862 ihre Landeshymne „Michigan, my Michigan“ ebenfalls zur Melodie des „Christmas Tree“; und auch ihr Text widmet sich dem Sezessionskrieg und der Heldenverehrung jener Jahre.
Dagegen klingt der 1867, also zwei Jahre nach dem Krieg von Samuel Byers auf die Tannenbaummelodie verfasste „Official State Song“ – „Iowa, my Iowa“ bereits deutlich ziviler. Und von einem geradezu sonnigen Lebensgefühl zeugt das 1906 von Reverend Chastain Waugh verfasste „Florida, my Florida“. Diese Lobeshymne auf das „bright sunkissed Land / loved by the Gulf and Ocean grand“ wurde 1913 zum First State Song erklärt.
Von der roten Arbeiterfahne bis zur blauen Club-Flagge
Eine andere – diesmal angelsächsische – Textvariante zur Tannenbaum-Melodie ist „The red Flag“. Ihr Autor James Connell hat sie 1889 im „Little Red Song Book for Industrial Workers“ veröffentlicht, und man kann sich denken: auch dieser Sänger hatte trotz der ausgewählten Melodie kein Weihnachtslied im Sinn. Die „Red Flag“ ist noch heute die Hymne der britischen „Labour Party“.
Zum Schluss der englischsprachigen Rezeptionsgeschichte unseres „Tannenbaums“ noch eine Variante mit blauer Fahne: Die Fans des Fußballclubs FC Chelsea singen die Hymne ihres Vereins ebenfalls zur Melodie des „Christmas Tree“:
„From Stamford Bridge to Wembley /We´ll keep the blue flag flying high“.
Wer sich jetzt das Vergnügen gönnen möchte, sich all diese Beispiele anzuhören bzw. anzuschauen, kann dies online bei Google und YouTube tun. Dort findet man außerdem noch eine spirituell kräftig aufgeladene Version des „Christmas Tree“ aus der Kehle der „Queen Of Soul“ Aretha Franklin. Wer aber beim „Tannenbaum“ lieber einmal herzhaft lachen möchte, dem sei seine Präsentation in Olli Dittrichs „Trixie Wonderland“ (2018) wärmstens empfohlen.