Mama, Opa, Kind: Warum generationsübergreifendes Singen unserer Gesellschaft gut tut.
Früher war gemeinsames Singen ein beliebter Zeitvertreib, und zwar fernab jeglicher Alterseinteilung. Heute liegt das gemeinsame Singen zwar voll im Trend, doch eher gut sortiert nach Altersgruppen und Genre-Interessen als gemeinsam mit Opa, Teenagerbruder, Mama und eigenem Kind. Dabei wohnt dem generations-übergreifenden Singen eine große Chance inne. Es kann uns Helfen, andere Generationen zu verstehen. Das ist nicht nur für die Zukunft der Chöre spannend, sondern auch für unsere Gesellschaft.
Ich sitze auf der Schaukel. Mein Opa steht neben mir. „Auf der schwäbsche Eisebahne gibt‘s gar viele Haltstatione“, tönt es. Wir singen gemeinsam. Das ist unsere Tradition. Schaukeln heißt, ich schwinge mich in die Lüfte und singe gemeinsam mit meinem Opa in unserem Garten. Damals war ich knapp fünf Jahre. Bei uns wurde immer viel gesungen. Wenn ich mit meiner Mutter im Auto saß, wenn ich mit meiner Oma gekocht habe, wenn mein Papa mal wieder begeistert von den „Flippers“ war: dann haben wir zusammen ein Lied angestimmt, oder zwei. Singen war normal.
Dass dieses Verhalten auf andere Menschen komisch wirken könnte, wurde mir erst mit sieben Jahren klar, als mich meine gute Schulfreundin Judith nett aber bestimmt darauf hinwies: „Das ist schon echt peinlich, das ganze Gesinge“. „Ich kann nicht singen“, „Ich treffe keinen Ton“, „Was denken die Leute?“ – Gedanken wie diese schwirrten bei uns zu Hause nie umher. Es ging allerdings auch nicht darum, besonders schön zu singen, sondern Spaß zu haben. „Im Moment ist es eher ein exotisches Projekt, wenn alle Generationen miteinander singen“, beobachtet Annette Mangold. „Singen sollte in allen Altersgruppen, aber vor allem bei Kindern wieder etwas Selbstverständliches werden. Wenn Kinder wieder ein Liedgut haben, dann wird auch ein Austausch mit den Erwachsenen leichter.“
Aufeinander eingehen
Einfach mal munter gemeinsam singen, macht Spaß, aber ist nicht immer konfliktfrei. In unserem kleinen „Familienensemble“ kam es zu ersten Problemen, als ich lieber Popsongs von Britney Speers als urige Volkslieder anstimmen wollte. Mein Opa konnte kein englisch und der Rest der Familie war von meiner Repertoireauswahl abgeschreckt. Jede Stimme und jede Altersgruppe hat spezielle Bedürfnisse. Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Schritt, zum erfolgreichen Singen mit verschiedenen Generationen. Stimmlich und menschlich ist ein hohes Maß an Feingefühl gefordert.
„Kinder lernen anders als Erwachsene“, erklärt Annette Mangold. „Sie bewegen sich beispielsweise gerne, während die Älteren am liebsten im Sitzen singen. Sie lernen übers Nachahmen, während Erwachsene meist Liedgut bevorzugen, das sie kennen oder zu dem sie Noten und einen Text haben.“ Und auch rein anatomisch gibt es deutliche Unterschiede: „Bei Kindern sind nicht nur Arme und Beine kürzer, sondern auch die Stimmbänder. Deshalb klingen ihre Stimmen höher“, erklärt Mangold. Wer also möchte, dass Kinder mitsingen, der sollte auch die Tonhöhe der Lieder anpassen, denn „Erwachsene können höher singen, Kinder aber nicht tiefer“. Das Ziel ist es, einen guten gemeinsamen Stimmumfang zu finden. Alle sollen sich wohlfühlen, dann machen auch alle gerne mit.
Mut zu kreativen Formaten
Nach Alter und Interessen sortierte Chöre, vom Kinder-, Jugend-, Gospel- bis zum Männerchor: Ensembles, die sich auf die Bedürfnisse von Stimmen und Persönlichkeiten spezialisiert haben, prägen unsere Chorlandschaft. „Das ist auch gut so“, sagt Jan Martin Chrost. „Als Chorleiter kann man so pädagogisch gezielter arbeiten.“ Doch Chrost möchte auch Schnittpunkte zwischen den einzelnen Ensembles schaffen und zwar regelmäßig. „Ich möchte, dass Generationen aufeinandertreffen, sich austauschen und musizieren.“
Möglichkeiten dafür gibt es viele. Gleich drei Generationen hat Irmgard Naumann mit ihrem „Oma-Mutter-Kind-Chor“ projektweise zusammengebracht. Von einer anderen Idee ist Chorleiter Christoph Achmüller begeistert. „Wenn Kinder gemeinsam mit Senioren singen, bringt das den alten Menschen viel Freunde und die Kinder bekommen einen anderen Blick auf das Leben.“ Es gibt viele Möglichkeiten, kreative Programme mit verschiedenen Altersgruppen zu gestalten. Es lohnt sich, mutig zu sein und etwas zu probieren. Ein regelmäßiges Angebot zu schaffen ist allerdings zeitaufwendig, denn die verschiedenen Lebensstrukturen gekonnt in Proben und Auftritten zu organisieren ist herausfordernd. Jan Martin Chrost versucht deshalb, immer wieder zeitbegrenzte Projekte zu gestalten. Von Gottesdiensten bis zum gemeinsamen Konzert ist alles denkbar. „Alle ein bis zwei Jahre sollte ein größeres Projekt geplant werden, denn so bleibt das Vereinsleben auch für junge SängerInnen interessant und alle haben ein Highlight, auf das sie sich freuen können.“ Chrosts letztes großes intergeneratives Projekt wurde diesen Sommer beim Chorfest des Schwäbischen Chorverbandes in Heilbronn aufgeführt. Gemeinsam mit einem Kinderchor und einer erwachsenen Besetzung sowie einem Orchester hat er Mozarts Requiem als Kinderkonzert auf die Bühne gebracht.
Zukunftsorientierte Vereinsarbeit
Alle Altersgruppen sind wichtig, damit ein Chor, ein Verein zukunftsfähig bleibt. Zukunftsorientierte Vereinsarbeit verbindet die Interessen verschiedener Generationen und begeistert jung und alt für dass, was eigentlich im Fokus steht: den Gesang. „Damit Chorstrukturen wie wir sie kennen bestehen bleiben können, muss aktiv Jugendarbeit betrieben werden“, betont Jan Martin Chrost. Kinder und Jugendarbeit im Verein braucht Fingerspitzengefühl und Geduld. Die Effekte sind nicht sofort messbar, aber, so formuliert es Irmgard Naumann, „manche Chöre müssen sich mehr öffnen. Manchmal höre ich Sätze wie: „ehe ich für eine Probe mein Dorf verlasse, singe ich nicht mehr“. Worte wie diese erschrecken Naumann, denn generationsübergreifendes Singen steht nicht nur für spannende künstlerische Projekte, sondern ist letztlich auch für den Fortbestand der Vereinskultur existenziell.
Menschlich wachsen
Denke ich heute an unsere Familien-Gesangs-Momente muss ich schmunzeln. Mit etwas Abstand betrachtet ist dieses übersichtliche Mehrgenerationen-Ensemble wie eine Miniaturversion der Gesellschaft. Ein kleiner Ausschnitt, der dennoch greifbar macht, was die Herausforderung beim generationenübergreifendem Singen ist: Alle sind verschieden, alle haben andere Erfahrungen, einen anderen Blick auf die Welt und die Musik. „Darin liegt ein großes Potenzial“, erklärt Jan Martin Chrost. „Die Jüngeren profitieren vom Erfahrungsschatz und die Älteren bleiben aktuell, verfallen nicht in starre Gewohnheiten.“
Für Chrost ist ein generationsübergreifender Ansatz vor allem ein guter Startpunkt, um menschlich zu wachsen. Singen verschiedene Generationen gemeinsam, lernen wir spielerisch, einander zu verstehen. Der Gesang kann das Verständnis füreinander schärfen. Letztlich sind Erfahrungen wie diese eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Denn wer lebt nicht gerne mit Menschen zusammen, die trotz verschiedener Ansichten und Erfahrungen bereit sind, aufeinander einzugehen? Wer dazu fähig ist, fördert Toleranz und Offenheit. Von beidem kann eine Gesellschaft nur profitieren.