Im Gespräch mit Hendrike Schoof und Maximilian Stössel von der Deutschen Chorjugend
Chorsingen kann was. Denn es kann Erfolgserlebnisse verschaffen. Was Chorsingen für das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen bewirken kann, beschreiben Maximilian Stössel und Hendrike Schoof von der Deutschen Chorjugend. Wie daraus dann Selbstorganisation erwächst, ist, wenn auch kein Selbstläufer, so doch eine spannende Frage.
Kubi: Ist Singen ein Ausdruck von Widerstand oder ist Singen einfach nur schön?
Maximilian Stössel: Singen ist in erster Linie ein Ausdruck des Menschseins, der uns emotional bewegen, aber auch manipulieren kann. So haben Widerstand und Konformität, Werbung und Konsumkritik oder Diktaturen und Demokratien jeweils ihre Hymnen, Lieder und Gesänge.
Hendrike Schoof: Im Chor kann ich viel lauter sein als nur alleine. Es gibt z. B. Protestchöre, die auf Demonstrationen singen und ihre Stimmen gemeinsam erheben. Das gemeinsame Singen kann also ein Ausdruck von Widerstand sein. Aber eben nicht zwangsläufig.
Kubi: Welche Räume für die Entwicklung von Selbstvertrauen, welche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit bieten Chöre Kindern und Jugendlichen?
Maximilian Stössel: Die grundlegende Frage ist, ob Menschen persönliche Erfolgserfahrungen gemacht haben. Dafür müssen Menschen erleben, dass sie eine Herausforderung, die sie selbst – also partizipativ – auswählen, meistern. Ich denke, puh, ob wir das hinkriegen, mit dem Stück, mit dem Repertoire. Und dann stelle ich aber fest: Yo, wir können das schaffen, wenn wir zusammenhalten und Hilfsmittel an die Hand bekommen. Als Chorleiter sollte ich den Jugendlichen in jeder Probe, bei jedem Konzert Erfolgserfahrungen ermöglichen und diese mit ihnen reflektieren. Kommen mehrere solcher Erfolgserfahrungen zusammen, dann steigert das die Frustrationstoleranz und die Persistenz. Das heißt, sie sind dann widerstandsfähiger, wenn mal was nicht gut läuft. Dann steigt auch die kollektive Selbstwirksamkeitserwartung der Gruppe, also ihre Einschätzung, Herausforderungen meistern zu können. Kinder und Jugendliche merken, wir können was verändern. Wir haben Einfluss auf diese Welt.
Kubi: Wie erwächst aus dem Musizieren der Antrieb zur Selbstorganisation und zur Verantwortungsübernahme im Verein, im Chor?
Hendrike Schoof: Die Erfolgserfahrung, hey, wir haben es gewuppt, dieses Stück mehrstimmig zu singen, kann man auf Selbstorganisation übertragen: Wenn Jugendliche beispielweise die Erfahrung machen, dass sie selbst einen Chorverein oder eine Chorjugend gründen und diese gestalten können. Das ist aber überhaupt kein Selbstläufer. Notwendig ist, dass die Erwachsenen – es sind ja meist Erwachsene, die pädagogisch und musikalisch mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten – den Kindern und Jugendlichen Freiräume lassen, in denen sie sich ausprobieren können. Im Jugendchor oder Chorjugendverband – also in Jugend geführten Organisationen – können junge Menschen z. B. Ämter übernehmen. Dabei ist es total essenziell, dass Erwachsene loslassen, die Jugendlichen einfach mal machen lassen und nicht nur eine Pseudo-Beteiligung an den Start bringen.
Maximilian Stössel: Damit diese außermusikalische Selbstorganisation gefördert wird, ist auch Repräsentanz total wichtig. Wenn ich erlebe, dass Jugendliche in meinem Alter mitsprechen und mitgestalten und ich mir das von denen abschauen kann, dann traue ich mir das auch selber zu. Außerdem ist es sehr viel wirksamer, wenn Jugendliche untereinander dazu aufrufen, sich zu engagieren.
Kubi: Ist die Übernahme von Freiräumen, also die Selbstorganisation Jugendlicher, auch ein Ausdruck von Widerständigkeit?
Hendrike Schoof: Es kann schon als Widerständigkeit angesehen werden, wenn Jugendliche sich Freiräume nehmen, die ihnen eigentlich selbstverständlich zustehen sollten. Sich diese Freiräume zu erobern, ist aber nicht so leicht, denn Jugendliche sind auf das Wohlwollen von Erwachsenen angewiesen, weil diese mehr gesellschaftliche und politische Macht haben als sie. Das wollen wir als Jugendverband ändern. Wir empowern Kinder und Jugendliche bzw. Multiplikator*innen, z. B. mit unseren Programmen „Einstieg Chormanagement“ oder „Kinderchorland“.
Kubi: Wie können in Kinder- und Jugendchören Themen wie Ausgrenzung, Diskriminierung, Populismus, Umweltzerstörung oder Ökonomisierung aufgegriffen werden? Haben Sie Beispiele?
Maximilian Stössel: Die Themen lassen sich sowohl pädagogisch als auch musikalisch im Chor thematisieren. Ich kann die Themen z. B. in den Stücken, die wir singen, behandeln.
Hendrike Schoof: Ja. Wir fördern dieses Jahr z. B. einen Mädchenchor, der eine internationale Begegnung mit einem albanischen Mädchenchor veranstaltet. Das Thema der Jugendbegegnung ist „Mädchenrechte“. Auf dieser Basis erarbeiten sie ein Konzertprogramm.
Maximilian Stössel: Oder ein Kinderchor erarbeitet ein Konzert zum Thema Umweltschutz, Bewahrung der Natur. Das ganze Konzert kann sich das Ziel setzen, möglichst nachhaltig zu sein. Es gibt z. B. ein Buffet, bei dem auf Nachhaltigkeit geachtet wird. Anhand dessen lässt sich die Thematik außerhalb des Musikalischen aufgreifen. Was produziert Plastikmüll? Welche Lebensmittel sind besonders umweltfreundlich, welche nicht? Die Kinder und Jugendlichen erleben, dass sie gemeinsam ein Konzert organisieren, eigene Ideen einbringen können und die Erwachsenen durch sie etwas lernen. Das ist ein Erfolgserlebnis. Auch deswegen, weil sie vor einem Publikum zeigen konnten, welche Themen ihnen wichtig sind.
Kubi: Wo ist der größte Handlungsbedarf, damit die Menschen innerhalb von Vereinen und Chören selbstbewusst die Gestaltung ihrer Umwelt in die Hand nehmen können?
Maximilian Stössel: Wir müssen dafür sensibilisieren, dass Kinder- und Jugendarbeit ein großes Potenzial hat. Chöre können z. B. zur Demokratieerziehung beitragen. Wir als Deutsche Chorjugend haben gerade unsere Leitlinien verabschiedet, einstimmig. Wir sagen: Chorsingen bietet die Chance zur Partizipation, zum Demokratielernen. Es ist mehr als: Man trifft sich einmal die Woche und singt was Schönes. Es ist für uns eine künstlerische Ausdrucksform des Menschseins. Als Bundesverband überlegen wir auch, wie wir u. a. mit Fördermitteln gemeinsame Erfolgserlebnisse durch Mitgestaltung unterstützen können. Ein Handlungsbedarf, den ich sehe: Wenn die Menschen, die das Verbandswesen so einflussreich mitgestalten, diverser wären, dann würden sich mehr junge Menschen motiviert fühlen, sich ebenso wie die jeweiligen Vorbilder zu engagieren. Und wir brauchen Fortbildungen, damit die Fachkräfte der Jugendarbeit noch stärker Selbstwirksamkeitserfahrungen oder Vielfalt fördern. Wir bieten dazu schon Workshops an und stellen Materialien kostenlos zur Verfügung, weil wir glauben, dass das eine große Stellschraube ist.
Dieses Interview ist zuerst in No. 17-2019 von kubi – Magazin für Kulturelle Bildung erschienen. Diese Ausgabe des Magazins der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) geht der Frage nach, was es bedeutet, wenn Widerständigkeit zu entwickeln ein Bildungsziel ist. Mehr unter www.bkj.de/publikationen/kubi/
ist als Bildungsreferentin bei der Deutschen Chorjugend für die Förderung internationaler Chorbegegnungen, Jugendpolitik sowie die Seminarreihe „Einstieg Chormanagement“ zuständig. Zuvor war sie für FLMH | Labor für Politik und Kommunikation und die Akademie für Ehrenamtlichkeit in Berlin tätig. Sie engagiert sich besonders für Jugendbeteiligung und gute Rahmenbedingungen für Ehrenamtliches Engagement.
Maximilian Stössel
ist Mitglied im Bundesvorstand der Deutschen Chorjugend. Der begeisterte Chorsänger und Chorleiter beschäftigt sich als Musikpädagoge, u. a. in dem Forschungs- und Praxisprojekt „Eine (Musik)Schule für alle“, damit, wie durch chorpädagogische Methoden in der Schule, im Verein oder in der musikalischen Sozialarbeit Partizipation und Selbstwirksamkeitserwartungen gefördert werden können.