Betrachtungen eines älter werdenden Hobby-Bildungsbürgers
Frei nach Jochen Malmsheimer kann ich sagen: „früher war alles besser“. Da war unsere Musikwelt noch geteilt in „Ernste Musik“ und „Unterhaltungs-Musik“, schwarz und weiß, Gut und Böse, Jing und Müll. Die Backstreet-Boys machten noch in die Hose oder waren Sternenstaub und Herbert von Karajan und Leonard Bernstein sagten klar an, was gut für den Bildungsbürger sei.
Heute haben wir uns so individualisiert, dass kein Mensch mehr weiß, was gerade „in“ ist, und schon gar keiner weiß ob man als guter Bildungsbürger, Humanist und Alltagsliterat in die Oper soll, lieber Barock-orchester oder doch Karl Richter hören soll. Selbst der so ungeliebte Jazz ist inzwischen zu einer ernsten Konkurrenz für Kammermusikkonzerte geworden. Und wo ist die klassische Musik?!
Der erste Teil:(das ist: Von dem, was Klassische Musik sei)
Unter dem Begriff Klassik subsumieren wir heute zahlreiche Phänomene, die miteinander so viel zu gemeinsam haben wie Frank Sinatra mit Alice Cooper. Beethoven, das ist Klassik! Und Mozart und Haydn. Für manche Rechthaber auch Bach, also Carl Philipp. Johann Sebastian hingegen ist keine Klassik, oder? Samuel Capricornus… eher nicht. Michael Praetorius schon zweimal nicht. Der ist von Mozart zeitlich so weit entfernt wie die Beatles.
Bevor wir über klassische Musik sprechen, sollten wir uns Gedanken machen, was damit gemeint sein soll. Für den einen mag es die Musik sein, die vor 1900 entstanden ist. Damit wären auch Spirituals und Volkslieder „Klassische Musik“, die Carmina Burana von Carl Orff aber nicht. Für andere wiederum ist klassische Musik das, wenn ein Orchester mitspielt. Dann wäre auch der Soundtrack zu „Herr der Ringe“ Klassische Musik, eine Klaviersonate von Beethoven aber keine… Für die Dritten ist Klassische Musik alles, was sich anhört wie Mozart. Dann wäre ein Bachpraeludium auch keine Klassische Musik, die Beatles aber irgendwie schon.
Wo will ich damit hin? Es ist schwer fassbar, was mit „Klassik“ gemeint sein will, und viele andere, viel intelligentere Typen als ich haben sich daran schon einen abgebrochen. Ein Versuch, diese Tatsache zu umschiffen, war die Einführung des Begriffs „Ernste Musik“, der genauso unscharf und nichtssagend ist wie jede Art von Eingruppierung bestimmter musikalischer Stile. Eine empirische Beobachtung ist, dass mit dem Begriff „Klassische Musik“ akustische Phänomene beschrieben werden, die sich nicht von selbst erklären, weil sie (meist) der soziokulturellen Geisteswelt vergangener Zeiten entstammen oder in einer Art und Weise verschlüsselt sind wie die Werke Luigi Nonos, mit der man beim ersten Hören einfach gar nicht klarkommt. Ich zumindest nicht.
Darin manifestiert sich wahrscheinlich die Gegensätzlichkeit von populärer, oder noch eingeschränkter: Pop-Musik (die sich ebenso unscharf definieren lässt wie klassische Musik). Gemeint ist hier Musik, die funktional eher schlicht gestrickt und vor allem so kurz ist, dass sie auf Grund der äußeren Form einer ernsthaften Durchführung aus sich heraus immer entbehren muss. Ein „Song“ ist selten länger als vier bis fünf Minuten und kommt mit zwei bis maximal vier Formteilen aus, so dass der Zuhörer auch Gelegenheit hat, etwas aus dem musikalischen Material wiederzuerkennen. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist die Form eines Kehrversliedes.
Wird ein Stück länger als acht oder zehn Minuten, sind Komponisten gezwungen, ihr zuvor erdachtes, musikalisches Material zu verändern, miteinander zu verweben und weiterzuentwickeln. Das unterscheidet nicht nur die kognitive und handwerkliche Arbeit von der eines Popmusik-Schreibers, sondern auch die Art und Weise, wie eine solch „lange“ Musik wahrgenommen werden will. Es bedarf einer anderen, in gewisser Weise auch intellektuelleren Anstrengung, sich mit einer dergestaltigen „klassischen“ Musik auseinanderzusetzen. Und das erklärt auch, warum alle Welt „DIE“ Toccata von Bach kennt (wir sprechen natürlich von BWV 565), aber nur ein erschreckend geringer Teil davon die anschließende, großartige Fuge. Oder „Aus der neuen Welt“ von Antonin Dvorak, was eigentlich nur ein kleiner Teil einer herrlichen Orchestersymphonie ist, die jeden Wild-West-Soundtrack in den Schatten stellt.
Je weiter also die Entstehung der Musik von der eigenen Lebenswelt entfernt ist, umso schwieriger ist es, sie zu entschlüsseln. Auf diesen Umstand möchte ich später nochmals zurückkommen.
Der zweite Teil: (das ist: Vom Wesen des Hörers und vom Zweck der Musik)
Seit langer Zeit ist es Sitte, dass man sich über verschiedene Geschmäcker definiert. Sei es der Kleidungsstil, das Parfum oder der Bio-Laden um die Ecke. Auch Musik dient in vielen Fällen als identitätsstiftendes Merkmal, in den vergangenen Jahrzehnten war das an der Heavy-Metal- oder Rapper-Szene zu erkennen. Insofern ist Musik seit langem ein Kriterium der Abgrenzung oder gleichsam Zugehörigkeit geworden. Sichtbar wird das auch in dem, was wir gemeinhin als Klassische Musik bezeichnen. Opernbesucher kennen meist den vertonten Stoff, oft sind das Epen (Ariadne auf Naxos, Daphne, Parsifal), meist gleichbedeutend mit (national) bedeutsamen Sagen und Legenden (Wilhelm Tell, Faust, Peter Grimes oder die Nibelungen). Ein Opernbesuch setzt voraus, dass der Zuhörer eine gewisse Vorbildung mitbringt, sonst ist er schnell überfordert. Auch beim klassischen, kirchenmusikalischen Oratorium braucht es ein Mindestmaß an biblischer Vorkenntnis, sonst kann die Musik eines „Israel in Egypt“ oder eines „Elias“ nicht die Kraft entfalten, die sie eigentlich in sich trägt. Klassisches Beispiel hierfür ist die Ouvertüre aus Mendelssohns „Paulus“. Wenn man den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ nicht kennt, kann man die Musik zwar schön finden, aber der Inhalt des Oratoriums nicht mit der Musik verknüpft werden. Ein weiteres Kriterium, das die Hörer voneinander unterscheidet, ist die Tatsache, dass es kein hörbares Original der Musik gibt. Wir können heute nicht mehr sagen, wie schnell ein Stück aus der Geistlichen Chormusik Heinrich Schütz‘ unter dem Komponisten selbst gesungen worden ist. Im Gegensatz dazu ist „Highway to Hell“ von AC/DC gut dokumentiert und selbst im Musical hütet man sich, ein anderes Tempo zu nehmen als das des „Originals“.
Bei der „Klassischen Musik“ geht es eher um jeweilige Interpretationen. Da ist einem die Interpretation des Mendelssohn‘schen Lobgesangs eines Frieder Bernius vielleicht organischer als die eines Karajan oder anders herum, aber wir wissen nicht, wie Mendelssohn es dirigiert hat. Bei ABBA gibt es eine „absolute“ Messlatte, bei Mendelssohn nicht, das macht es schwerer vergleichbar und letztendlich ein Stück weit verschlüsselter. Es ist auch eine gewisse Hörerfahrung dazu nötig, also das Stück mehrfach von unterschiedlichen Interpreten gehört zu haben. Die Erfindung von Aufnahme- und Abspielgeräten stellt also letztendlich einen eklatanten Bruch in der Rezeptionsgeschichte von Musik dar.
Der dritte Teil (oder: Wo Klassische Musik stattfindet)
Seit dem Anbeginn der Musik hatte diese immer einen Zweck. Da waren in der Antike religiöse Feiern begleitet worden, im Mittelalter Geschichten und Sagen weitergegeben, zum Essen und zum Gelage aufgespielt worden. Mit der Renaissance wird die Musik über die Maße christlich-religiös vereinnahmt, was im Barock seinen Höhepunkt findet. Danach, also in der Zeit der Wiener Klassik beginnt das Bürgertum zunehmend, diese Musik für sich und seine Repräsentanz zu nutzen, mit Mozarts „Zauberflöte“ wird die Opera seria endgültig „volksnah“. Im 19. Jahrhundert erwächst aus dieser Idee das „privatbürgerliche Abendkonzert“, zu dem von betuchten und/oder kulturell interessierten Bürgern ein-
geladen wurde. Dort passiert vor allem eines: die Musik wird einem Zweck entfremdet und steht nun für sich selbst, die musikalische Darbietung wird plötzlich Zweck der Zusammenkunft und nicht wie bisher deren akustischer Rahmen. Damit wurde Kunst (nicht nur Musik) auf eine fast pseudo-religiöse Stufe erhoben, an die sich im späten 19. Jahrhundert auch noch ein Geniekult anschloss.
Wie selbstverständlich zelebrieren wir heute noch diese Formate mit einer Vehemenz, wie sie fast nur in Deutschland zu finden sein dürfte. Es ist wie ein Ritual: am Samstag oder Sonntag, nach oder vor dem Abendessen putzt man sich fein raus, fährt zum Konzertsaal (natürlich mit dem Auto!), trinkt einen Schampus, nimmt sich ein oder zwei Canapées vom Tablett, sucht seine zugewiesene Sitzreihe und Sitzplatz. Die versammelte Konzertgemeinde verstummt, das Orchester stimmt, der Chor kommt herein (Applaus), Stille, die Solisten kommen (Applaus), Stille, der Dirigent betritt die Bühne (Applaus) und es beginnt. Der Konzertbesucher hat dann im Ernstfall mehrere Stunden die Klappe zu halten, bis das letzte Stück verklungen ist. Der Dirigent hält nach dem Abschlag noch einige Sekunden den Taktstock erhoben und entspannt dann.
Plötzlich: Panik. Darf man Klatschen? Jetzt schon? Oder lieber noch warten? Klatscht niemand? Dann die Erlösung: ganz hinten fängt eine pelzmäntelig-goldbroschierte ältere Dame zaghaft an zu klatschen und der Applaus brandet durch den Saal, das Abschluss-Ritual beginnt. Verbeugen, rausgehen, reinkommen, verbeugen, rausgehen, reinkommen, Blumen werden überreicht, etc…. Leute in den vorderen Reihen erheben sich für Standing Ovations, die Leute in den hinteren Reihen sehen nichts mehr und erheben sich deshalb ebenfalls, gewollt oder ungewollt… Wer sitzenbleibt hat die Genialität nicht verstanden oder so ähnlich.
Am Ausgang hört man Sprachfetzen über die Klarheit der Sopranistinnenstimme, Harnoncourt hat aber den Alt mit einem Countertenor besetzt, und überhaupt ist der Dirigent eigentlich ein Gott, transzendent entzieht er sich der Alltagswelt und vertieft sich wochenlang in Partituren. Seien Sie vergewissert: Wir sind auch nur Menschen. Ich habe heute aus menschlichem Bedürfnis heraus Toilettenpapier gekauft, meine Wohnung müsste dringend mal gesaugt werden und nachdem ich diesen Artikel fertig geschrieben habe, werde ich meine olfaktorisch eher unattraktiven alten Socken in die Waschmaschine schmeißen, die ich selbst die Treppe hochgetragen und angeschlossen habe. Aber über Dirigenten schreibe ich ein andermal.
Wie gesagt, das Konzert ist aus, die Leute strömen schnell zum Auto oder in die nächste Vinothek und der Klassik-Novize steht nach seinem ersten Konzertbesuch verdutzt im sich entleerenden Foyer und weiß nicht, was los ist… ob er da nochmal hingeht, vor allem, wenn die Karte weit über 30,00 Euro kostet?
Der vierte Teil (oder: Was denn nun die Essenz dessen sei)
Ich habe also für mich folgende Dinge festgestellt:
- Das, was wir „klassische Musik“ nennen, ist das, was scheinbar weiter entfernt von unserer Lebenswelt stattfindet und einen anderen, vielleicht intellektuelleren Zugang braucht.
- Die persönliche Identifikation des Hörers ist entscheidend für die Rezeption der Musik.
- Klassische Musik findet oft in einem Kontext statt, der selbst schon so stark kultiviert ist, dass es für Neulinge im Konzerthaus nicht immer ganz nachvollziehbar ist.
Was folgt für mich daraus?
- Die inhaltliche Auseinandersetzung mit Musik ist erstlich unabhängig vom Alter des Rezipienten. Nicht umsonst wissen wir alle um die Entstehungsgeschichte der Ballade „Tears in Heaven“ von Eric Clapton oder fragen uns bis heute, warum Freddie Mercury den Text der „Bohemian Rhapsody“ geschrieben hat. Diese soziokulturellen Hintergründe sind uns bewusst. Vielleicht weiß man auch noch (dank Milos Forman), dass mit dem Mozart-Requiem irgendwas seltsam-unheimliches los war. Aber warum Schütz die „Musikalischen Exequien“ komponiert hat, ist gemeinhin nicht bekannt.
Dennoch. Ich bin überzeugt, dass jede Musik und ihr Zugang nicht nur von der Generation Ü60 geschafft werden kann, sondern von jedem Erwachsenen. Man muss sich nur der geistigen Anstrengung (die so groß gar nicht sein kann) stellen. Und: es gibt immer die Möglichkeit, Fragen zu stellen, es traut sich bloß keiner … - Wir sollten uns ein Stück weit davon befreien, uns selbst über Musikgeschmäcker zu definieren. Das ist wie mit dem Essen, eins allein macht nicht glücklich, manchmal darf es auch Schwarzbrot sein, oder sogar Pumpernickel. Die bloße Reduktion auf „Gefällt mir nicht“ kann und will ich nicht gelten lassen. Musik ist nicht dazu da, nur zu gefallen. Musik will auch Abgründe auftun, Verstimmungen hörbar machen und Inhalte übertragen. Wir werden ja auch nicht gefragt, was wir am liebsten in den Nachrichten hätten. Oder wie der Tatort am Sonntag ist. Selbst wenn er (wie häufig in letzter Zeit) eher mittelspannend oder schlecht gespielt ist, sehen wir ihn bis zum Ende an, einfach weil wir ihn gesehen haben wollen (ist am Montag vielleicht auch Gesprächsthema im Büro…). Machen Sie es mit Musik so wie mit dem Tatort. Nicht abschalten, wenn`s nicht gefällt. Das gehört einfach auch dazu.
- Wir müssen dringend darüber nachdenken, wo und wie wir Musik hören. Und ob es das ganze Galama um das Format „Konzert“ eigentlich braucht. Sicherlich, der Mensch ist auch ein Ritual-Tier, und stillsitzen und mal den Mund halten ist auch nicht ganz so schlecht. Zuhören will gelernt und gelebt sein! Aber mal ehrlich, ein bisschen Entspannung im Konzertsaal dürfte doch sein. Gehen Sie mal in Jeans und Pulli in die Oper oder nehmen Sie sich Popcorn mit, dann wäre schon viel gewonnen. Essen Sie halt nur bei den lauten Stellen (deshalb ist es im Kino wahrscheinlich auch immer so laut…). Und vielleicht sollten wir Dirigenten uns nach dem Konzert einfach ins Foyer stellen. Nicht zur Autogrammstunde, sondern zum Bier trinken und reden. Schöne, neue Welt!