Musik ist jung, egal welches Alter der Sänger hat.
Es war einmal ein Gesangverein, der gründete einen „Jungen Chor“ mit einem kreativen Namen. Dort wurde nicht nur deutsch, nicht nur Silcher und Brahms gesungen. Dort wurde auch englisch gesungen, ABBA und Udo Jürgens und Beach Boys. Das war vor etwa 20 Jahren. Der „Junge Chor“ ist jetzt erwachsen geworden. Die Sängerinnen und Sänger im „Jungen Chor“ sind nicht mehr 35, sondern eher 55 Jahre alt. Der „Junge Chor“ ist auch nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel, er hat in vielen Fällen den Liederkranz abgelöst.
Und jetzt? Jetzt ist plötzlich der „Junge Chor“ der „alte“ und muss sich Gedanken machen, wie’s weiter geht. Mancherorts zeigen sich erste Krisenanzeichen wie Nachwuchsmangel oder die Suche nach einer Perspektive.
Ich schreibe aus der Perspektive als Musikdirektorin eines eher ländlichen Chorverbands (Verbandschorleiterin) und als Chorleiterin eines „Jungen Chors“. Der geschilderte Status ist sicher nicht ganz genauso in allen Vereinen. Aber die mehr und mehr beunruhigten Meldungen aus den zahlreichen Chören gleichen sich doch ein Stück weit. Und es treffen zwei ungute Entwicklungen zeitlich aufeinander. Zum einen lösen sich die traditionellen gemischten Chöre, die meist noch den „Liederkranz“ oder „Gesangsverein“ im Chornamen tragen, nach und nach auf. Einige empfinden ihr Gesangsvermögen aufgrund des hohen mittleren Alters als nicht mehr ausreichend, andere finden keine Chorleitung mehr, wieder andere finden keinen Vorstand mehr. Zum anderen macht den „Jungen Chören“ die Zukunftsperspektive zu schaffen. Bei immer mehr „Jungen Chören“ wird klar, dass allein die Tatsache, auch englisch und auch aktuelle Stücke zu singen, kein Garant für Attraktivität mehr ist. In Krisengesprächen höre ich fast immer die gleichen zwei Problemzonen: 1. junge Leute und 2. Männer.
Da ich nicht nur Musikdirektorin und Chorleiterin, sondern auch promovierte Soziologin bin, kann ich nicht anders, als auch diese Perspektive in die Analyse einzubeziehen. Wenn bei so vielen „Jungen Chören“ der Mangel an Männern und jungen Leuten das Hauptproblem ist, muss es dafür ja systematische Gründe geben.
Meine folgende Analyse ist die Zusammenfassung vieler, vieler Gespräche mit alten und jungen, weiblichen und männlichen Sängerinnen und Sängern aus den unterschiedlichsten Chor-Gattungen – mit der immer gleichen Fragestellung: was macht das Singen im Chor für dich attraktiv? Da es für mich ein Gespräch mit einem über 80-jährigen Sänger gab, das für mich augenöffnend war, möchte ich dies jedoch kurz voranstellen. Er sagte mir: „Weißt du, früher, als ich jung war, da hatten wir einen guten Beruf, bei dem man seine Arbeit in Ruhe machen konnte. Und abends gab es nichts zu tun. Wenn ich mir anhöre, was ihr jungen Leute heute für eine Hektik habt, den ganzen Tag über und ohne richtige Pausen, dann glaube ich nicht, dass man da abends noch Noten lernen kann. Und wenn man dann abends heimkommt und auch noch den Haushalt machen muss, weil die Frau auch einen anstrengenden Job hat, dann bleibt da doch keine Muße mehr zum Singen.“
Lebensabschnitte und Kontinuität
Zwischen dem Ende der Schulzeit und dem ersten Kind, das mittlerweile eher mit 32 als mit 20 Jahren kommt, passiert unendlich viel. Jobwechsel, Wohnortwechsel, Partnerwechsel, Hobbywechsel. Wenn alle Kinder dann mal in den Kindergarten gehen und ein Babysitter gefunden ist, stellt sich so langsam Kontinuität im Leben ein (von Ruhe will ich da lieber nicht sprechen). Das ist auch die Zeit, in der viele Erwachsene wieder die Nerven aufbringen, sich nach einem dauerhaften Hobby umzusehen. Zum Beispiel eine wöchentliche Chorprobe, verbunden mit weiteren Verpflichtungen wie Probewochenenden, Kuchen- und Theken-Diensten oder Herbstkonzerten. Es gibt sicherlich Menschen, die auch in wilden Zeiten dauerhafte Verpflichtungen eingehen, aber das ist eher nicht die Regel.
Vollzeit und Teilzeit
In Baden-Württemberg arbeiten aktuell 90 Prozent der Männer in Vollzeit, bei den Frauen sind es 50 Prozent (bei den Frauen kommt nach wie vor ein entsprechend größerer Teil „Familienarbeit“ dazu). In vielen Berufen überwiegt heute die „Kopfarbeit“ im Vergleich zur körperlichen Arbeit. Natürlich sprechen viele Sängerinnen und Sänger vom Singen als „Ausgleich“ zum Alltag. Und dennoch berichten mir viele (männliche) Sänger, dass sie abends einfach keine Energie mehr aufbringen, sich zu konzentrieren. Daher liegt für mich der Schluss nahe, dass es deswegen mehr Frauen gibt, die abends noch Lust haben, sich zu konzentrieren, weil es eine unterschiedliche Verteilung der Arbeitsstruktur zwischen Männern und Frauen gibt. Um es nochmals deutlich zu sagen: ich möchte nicht behaupten, dass der Tag bis 20 Uhr für Frauen weniger anstrengend ist, als für Männer. Aber die konzentrierte Arbeit in der Chorprobe scheint für Frauen mehr „Ausgleich“ zu bieten als für Männer.
Zwar arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer. Aber der Anteil an Frauen, die arbeitstätig sind, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Während von den Frauen zwischen 25 und 60 Jahren im Jahr 1972 etwa 55 Prozent gearbeitet haben, sind dies bei den Frauen im gleichen Alter im Jahr 2018 etwa 80 Prozent. Wenn wir uns also die Frage stellen, warum es schwieriger ist, junge Menschen in den Chor zu locken, könnte das auch ein Grund sein. Je jünger die Sängerinnen und Sänger sind, desto höher ist der Anteil der berufstätigen Frauen.
Männer und Melodie
Es ist unfair. Der Sopran hat die Melodie und die Männer haben „dum dum dum“. Ja, es gibt Arrangements, die die Melodie besser verteilen oder ohne Vokalisen bzw. rhythmische Silben auskommen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer die Melodie singen, ist doch eher gering. Eine Frau, die noch nie in einem Chor gesungen hat, kann sich in einem „Jungen Chor“ recht problemlos in den Sopran schleichen und dort in weiten Teilen die Melodie mitsingen. Beim üblichen Pop-Rock-Repertoire ist der Sopran ja nicht so hoch, dass es dafür besonderer sängerischer Technik bedürfte.
Ein Mann, der noch nie in einem Chor gesungen hat, muss sich damit abfinden, Tonfolgen zu lernen, die eben nicht die Melodie sind. Häufig haben die Männerstimmen sogar einen anderen Rhythmus als die Melodie. Und so ergibt sich in der Chorprobe eine für Chorleitung und Sängerinnen wie Sänger unangenehme zeitliche Verteilung. Die Männer, die in der Minderheit sind, „verbrauchen“ den größten Anteil an Probenzeit. Noch unangenehmer wird es für die wertvollen Männer, die sich für den Tenor entschieden haben. Ich kenne viele Chöre, in denen die Tenöre bei jeder Chorprobe hoffen, heute nicht wieder als Solo-Tenor proben zu müssen.
Altersspanne und Hörgewohnheiten
Werde ich gefragt, wie man als Chor für junge Leute attraktiv sein kann, sage ich zum Beispiel: Singt doch mal was von Billie Eilish oder Wincent Weiss. Wer bitte? Zunächst mal ist es schwierig, von aktuellen Songs überhaupt Chorsätze zu bekommen. Der offizielle Weg, die Rechte fürs Arrangieren zu bekommen, macht es für Verlage langwierig, Neues herauszubringen (und für Chorleitungen, die selbst arrangieren praktisch unmöglich, ihre Arrangements öffentlich zu machen). Dazu kommt, dass aktuelle Titel oft nicht zu den Hörgewohnheiten der Sängerinnen und Sänger im „Jungen Chor“ passen, deren Musikgeschmack eher in den 1980er Jahren geprägt wurde. Das macht sich hauptsächlich in den andersartigen Rhythmen und Harmonien bemerkbar. Nicht zuletzt weiß ich von vielen jungen Sängerinnen und Sängern, die lieber mit Gleichaltrigen singen. Wenn Lebensphase und Musikgeschmack ähnlich sind, ist es einfacher, ein Gruppengefühl herzustellen.
Lösungen?
Welche Lösungen gibt es? Für den Vorstand meines „Jungen Chors“ war nach dem 20-jährigen Jubiläum klar: wir sind jetzt so alt wie die Liederkranz-Sängerinnen und -Sänger, die unseren Chor damals in weiser Voraussicht gegründet haben – also sollten auch wir jetzt einen wirklich jungen Chor gründen. Mit 20- statt 50-Jährigen. Gesagt, getan, die ersten Proben sind gelaufen und der Zulauf ist gut. Vielleicht muss es ja auch kein klassischer gemischter Chor sein, vielleicht funktioniert auch (erst mal) ein Ensemble.
Es ist mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass Projekte „gut laufen“. Sängerinnen und Sänger – egal welchen Alters – finden es attraktiv, sich nicht auf Dauer per Mitgliedschaft und wöchentlicher Probe zu binden. Ein Konzertdatum, ein klares und griffiges Programm, eine überschaubare Anzahl an Proben. Dies scheint sowohl im klassischen als auch im Pop-Rock-Bereich ein Erfolgsrezept zu sein. Der Verein sollte sich bloß nicht der Wunschvorstellung hingeben, dass alle Projektsängerinnen und -sänger im Anschluss dem Verein treu bleiben. Aber es spricht ja nichts dagegen, an ein Projekt gleich das nächste anzuschließen.
Noch kompakter als ein Projekt ist ein Mitsingkonzert. Dabei gibt es unterschiedliche Varianten. Ein Chor bereitet z. B. ein paar Lieder vor, die er wie üblich vorsingt – und dazwischen gibt es, beispielsweise thematisch passend, Stücke, die das Publikum mitsingt. Die Liedtexte gibt es dann in Papierform oder per Beamer. Das funktioniert a cappella oder mit Klavier oder kleiner Band.
Männer in die Melodie!
Viele Chorleitungen wählen bei Männermangel Arrangements aus, die nur eine Männerstimme vorstehen, also Sopran-Alt-Bass (SAB bzw. SAM). Es kann aber auch eine gute Lösung sein, Arrangements für gleiche Stimmen auszuwählen (oder zu schreiben), die also für Frauenchor oder für Jugendchor gedacht sind (SSA oder SAA). Die Frauen werden dann auf die 3 Stimmen aufgeteilt, z. B. Sopran, Alt 1 und Alt 2, die Männer werden den Stimmen zusätzlich zugeteilt, z. B. 2 Männer singen beim Sopran mit, 3 Männer singen beim Alt 2 mit. Hier braucht es je nach Stimmverteilung im Chor und je nach Arrangement etwas Experimentierfreude und Übung von Seiten der Chorleitung, wie es gut klingt. Die Erleichterung bei den wenigen Männern, nicht mehr alleine für eine Stimme verantwortlich zu sein und nicht mehr alleine proben zu müssen, ist mitunter groß!
Darüber hinaus gibt es natürlich zahlreiche weitere Faktoren, die die Attraktivität eines Chors erhöhen: eine hohe gesangliche Qualität, das Einladen externer Dozenten oder Stimmbildnerinnen, die Erweiterung des Chors um einen Beatboxer, moderne Licht- und Tontechnik bei Auftritten, ansprechende optische Gestaltung aller Veröffentlichungen, Präsenz und Aktivität in den sozialen Medien, Kinder- und Jugendarbeit. Jeder Chor sollte sich Gedanken über seine Stärken und Schwächen in diesen Punkten machen und sich entsprechend weiterentwickeln.
Nur Mut! Allen Unkenrufen zum Trotz behaupte ich: es gibt genügend Sängerinnen und Sänger aller Altersklassen, die Lust aufs Chorsingen haben. Aber es braucht eben neue, zeitgemäße Formate, um attraktiv zu sein!