Es ist nicht analog, aber es geht viel
Klar, zusammen singen ist immer noch das Beste und nicht ersetzbar. Aber wenn das gemeinsame Singen im gemeinsamen Raum – oder wenigstens auf der gemeinsamen Wiese – nicht klappt, dann hilft meist nur die Online-Chorprobe. Dass man in Videokonferenzen wegen des Zeitversatzes (Latenz) nicht gut zusammen singen kann, hat sich ja schon rumgesprochen.
Was ich auch bemerkt habe, ist, dass es für alle Beteiligten wenig befriedigend ist, die Online-Chorprobe so zu gestalten wie eine „echte“ Chorprobe. Also: die Chorleitung spielt eine Passage für eine Stimme vor, die entsprechenden SängerInnen singen sie nach. Dadurch, dass die SängerInnen vor dem Bildschirm ja meist alleine singen, wirkt das wenig attraktiv. Wenn eine Chorsängerin mit nicht-professionell ausgebildeter Stimme ihre Alt-Passage von Takt 20 bis Takt 24 alleine und erst fast richtig in einem nicht-hallenden Raum singt, macht das einfach wenig Spaß, das ist nachvollziehbar.
Ich habe mit meinen Chören mittlerweile über 30 Online-Chorproben absolviert. Und wir haben gemeinsam viele Möglichkeiten ausprobiert, was man online so umsetzen kann. Die Varianten, die gut funktionieren und die Online-Chorprobe sogar richtig spannend machen können, möchte ich hier kurz skizzieren. Mein Ziel bei allem Experimentieren und Berichten ist dabei immer: die Chöre am Leben zu halten und den SängerInnen trotz aller Widrigkeiten den Spaß am „gemeinsamen“ Singen zu erhalten.
Das grundlegende Vorgehen ohne neue, technisch aufwendige Programme bei der Online-Probe ist ja, dass beim Singen die SängerInnen stumm geschalten sind, also nur die Chorleitung zu hören ist. Die SängerInnen können vorm Bildschirm so laut singen wie sie wollen, sich gegenseitig aber nicht hören. Das ist schade, kann man aber auch nutzen. Ein Vorteil hiervon ist beispielsweise, dass alle SängerInnen immer mitsingen können, der Sopran muss nicht still warten, während der Alt probt. Das bedeutet aber auch, dass niemand eine Pause hat. Zusätzlich zur „ungemütlichen“ Atmosphäre vorm Bildschirm führt das schneller zum Ermüden und fordert schnellere Wechsel zwischen Probenformaten als in der „echten“ Chorprobe. Ausgehend von diesen Grundlagen gibt es für die Chorleitung folgende Möglichkeiten, die Online-Probe zu gestalten:
Klassisch: Passagen vorsingen und nachsingen
Zwischen meinem Bildschirm und mir steht mein E-Piano bzw. mein Bildschirm steht auf dem Klavier bzw. Flügel. So kann ich die Passagen im Lied, die ich üben möchte, vorspielen und vorsingen, ganz wie in der „echten“ Chorprobe. Meist probt man ja mit einer konkreten Stimme, also beispielsweise dem Alt. Es bietet sich aber an, nicht nur den Startton der Stimme vorzuspielen, die gerade probt, sondern immer alle Starttöne für die Passage für alle Stimmen. So können alle SängerInnen mitsingen, auch wenn sie gerade „nicht dran“ sind.
Zu Übe-Dateien mitsingen
Übe-Dateien können auf verschiedene Arten entstehen. Viele Verlage bieten mittlerweile beim Kauf eines Arrangements ein Komplettpaket an, das Übe-Dateien für alle Stimmen enthält. Zu zahlreichen modernen Arrangements gibt es auch Videos auf Online-Plattformen wie Youtube, die entweder das gesamte Arrangement oder sogar einzelne Stimmen liefern. Zweite Möglichkeit: wenn ich die Noten selbst in meinem Notenprogramm geschrieben habe, kann ich das neue Arrangement auch als MP3 abspeichern, ggf. kann ich dabei die einzelnen Stimmen lauter hörbar machen. Hierbei fehlt zwar der Text, aber die Melodie ist so gut zu hören. Die letzte Möglichkeit ist die aufwendigste: die Übe-Dateien selbst für die einzelnen Stimmen einzusingen. Ich persönlich habe das im ersten Lockdown im April 2020 angefangen – und es als enormes Plus an Wissen und Können für mich selbst zu schätzen gelernt. Eine Stimme so präzise einzusingen, dass sie als Vorlage für die SängerInnen dienen kann, ist eine echte Herausforderung.
Zoom-Tipp: damit die SängerInnen die Übe-Dateien mithören können, muss bei Zoom „Bildschirm teilen“, „Erweitert“, „Nur Computerton“ aktiviert sein.
Bei Chorvideos auf Online-Plattformen mitsingen
Wenn man Arrangements von Verlagen kauft, kann man davon ausgehen, dass dies auch andere Chöre tun – und es davon schon Videos beispielsweise bei Youtube gibt. Diese sind nicht immer perfekt, aber sie eigenen sich doch, um dazu mitzusingen. So haben die SängerInnen zumindest ansatzweise einen Chorklang, wenn sie ihre eigene Stimme singen.
Zoom-Tipp: Damit die SängerInnen das Youtube-Video mitschauen können, muss bei Zoom „Bildschirm teilen“ angeklickt werden, unten wird die Option „Den Computerton freigeben“ aktiviert, dann wird der Browser, in dem Youtube geöffnet ist, angeklickt und es geht los. Achtung: es ist empfehlenswert, vorab das Video in Youtube kurz zu starten, dann auf Pause zu drücken, dann erst den Bildschirm zu teilen. Sonst sieht der Chor auch die Videos, die man zuletzt angesehen hat (kann zur allgemeinen Erheiterung beitragen).
Zum Original-Musikvideo auf Online-Plattformen mitsingen
Eine zusätzliche Herausforderung ist es, gerade bei Pop-Stücken, zum Musikvideo des ursprünglichen Sängers oder der ursprünglichen Sängerin eines Stückes dazuzusingen. Dabei sollte die Chorleitung zunächst klären, in welcher Tonart das Original ist und in welcher das Arrangement geschrieben ist. Nur wenn das nah beieinander liegt, klappt das Mitsingen auch für die Nicht-Melodiestimmen gut. Vor dem Starten des Videos gibt die Chorleitung den einzelnen Stimmen ihren Startton in der Tonart des Original-Videos. Einerseits ist das Mitsingen zum Original-Musikvideo etwas unbequemer – kann aber viel Spaß machen. Es fördert das Auswendig-Singen, da das Video ja auch spannend ist. Und kann zu wahren Ausbrüchen von Kreativität führen, wenn man die SängerInnen dazu auffordert, die Choreografie im Musikvideo mitzumachen. Alternativ zum Musikvideo kann man auch zu einer Karaoke-Version des Liedes mitsingen. Hierzu einfach bei der Suche den Titel des Stücks und das Stichwort „Karaoke“ eingeben.
Zu eigenen alten Aufnahmen oder Videos mitsingen
Vielleicht gibt es alte Aufnahmen von Konzerten vom Chor? Da können die alten Noten wieder herausgesucht werden – und die neuen SängerInnen erleben ein Stück Chor-Geschichte. Da alle SängerInnen auf „stumm“ geschaltet sind, ist es ja nicht schlimm, wenn es nicht mehr so klingt wie „damals“ oder wenn die Neuen nicht mitsingen können. Wenn dann auch noch die alte Choreografie herausgekramt wird, kann es sehr lustig werden.
Sich in andere Online-Proben oder Online-Stimmbildung dazuschalten
Zurzeit proben viele Chöre online. Vermutlich auch am selben Abend wie die eigene Chorprobe. Vielleicht wäre es eine schöne Idee, sich gegenseitig zur Online-Probe einzuladen, z. B. zur Stimmbildung oder beim Erlernen eines neuen Kanons. Ich finde es als Chorleitung immer erfrischend, wenn meine SängerInnen auch mal ein anderes Gesicht sehen und neue Übungen kennenlernen. Als Beispiel sei die Stimmbildung mit Wiebke Huhs beim Chorverband Johannes Kepler empfohlen, bei der man sich jeden Mittwochabend per Zoom dazuschalten kann (www.chorverband-kepler.de/veranstaltungen/seminarangebote/). Auch bei mir kann man nach Anmeldung gerne jeden Dienstag- und Mittwochabend per Zoom dazukommen (mail@tabearaidt.de).
Stimmbildungs-Videos auf Online-Plattformen nutzen
Bei Online-Plattformen wie Youtube gibt es eine riesige Anzahl an Videos zur Stimmbildung, zum Einsingen, zur Improvisation und so weiter. Anstelle eines eigenen Einsingens kann auch einfach gemeinsam ein solches Video angeschaut werden (technische Hinweise zum Video-Teilen siehe oben). Zusätzlich zu Videos zum Mitmachen kann man ja auch mal gemeinsam Videos anschauen, bei denen man was lernt, z. B. wie der Kehlkopf aufgebaut ist, wie die Stimmbänder die Töne produzieren oder welche Rolle der Vokaltrakt spielt. Hier empfehle ich die DVD „Die Stimme. Einblicke in die physiologischen Vorgänge beim Singen und Sprechen“ vom HelblingVerlag. Oder wie wäre es mit kleinen Videos zum Notenlesen oder zum Singen von Intervallen?
Sich alte Chorgeschichten erzählen
Es gibt immer SängerInnen, die schon sehr lange im Chor dabei sind oder insgesamt schon sehr lange in Chören singen. Vielleicht möchten diese „alten Hasen“ was von Früher erzählen? Wie war das, als man noch die Standarte des Chor-Vereins bei jedem Auftritt dabei hatte? Welche Aufnahmerituale gab es? Welche Feste wurden gefeiert, wie hat man sich finanziert? Und ist damals tatsächlich der beste Bass mit wehenden Fahnen aus der Chorprobe gerauscht, weil er politisch anderer Meinung als die Chorleiterin war? Oder der Vorstand nimmt sich einfach mal die verstaubte Chronik des Vereins vor, macht den Geschichtenonkel und trägt ein paar nette Einträge vor. Nicht zuletzt eignet sich so eine Online-Probe dazu, sich einfach mal auszutauschen, zu plaudern und virtuelle mit einem Glühwein anzustoßen – schließlich muss ja keiner mehr heimfahren!