Kinder- und Jugendchöre als sichere Räume gestalten.
Jungen Menschen Räume zu eröffnen, in denen sie sich mit ihren individuellen Stärken und Bedürfnissen selbstbestimmt entwickeln können, ist die Grundlage von Kinder- und Jugendarbeit. Die Chorproben sowie das Vereinsleben können und sollten dabei ein geschütztes Lebens- und Lernumfeld für junge Menschen bieten: Orte, an die ich als Kind gerne gehe, an denen ich gerne in Gemeinschaft lerne und im besten Fall Orte, an denen ich vertraute Bezugspersonen finde, wenn ich nicht weiß, wohin ich mich sonst wenden kann. Das Kindeswohl steht somit im Zentrum unserer musikalischen und pädagogischen Arbeit.
Kindeswohl zu achten – das bedeutet, jungen Menschen zu ermöglichen, angst- und gewaltfrei aufwachsen zu können, individuelle Grenzen anzuerkennen und sich auf Augenhöhe zu begegnen. Es bedeutet, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben ihre Meinung und Fähigkeiten einzubringen und sie aktiv in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stärken.
Es bedeutet außerdem anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche Rechte haben, die besonders schützenswert sind, weil Minderjährige sich in unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu Erwachsenen befinden. Kindeswohl zu schützen und jungen Menschen im Zusammenleben und -arbeiten entsprechende Schutzräume zu bieten, ist unsere Verantwortung und unsere Pflicht.
Wenn wir Kinder- und Jugendchöre als sichere Räume im Sinne des Kindeswohls gestalten wollen, müssen wir junge Menschen empowern, in ihrer Persönlichkeit stärken und ihnen gleichzeitig Strukturen für ein sicheres Zusammenleben bieten, das vor grenzüberschreitendem Verhalten schützt.
Vieles läuft bereits gut in Vereinen und das häufig dank großem, ehrenamtlichen Engagement.
Sie kann neue Prozesse anstoßen, aber auch positive, bereits bestehende Prozesse weiterführen und festigen. Dabei geht es nicht darum potentielle Missstände zu verurteilen oder Misstrauen zu schüren, nach dem Motto – die beschäftigen sich mit Prävention? Dann muss da auch was schieflaufen – sondern vielmehr um den Mut zur Selbstreflektion und darum, die eigene Arbeit in den bestehenden Strukturen immer wieder zu hinterfragen, auch dann, wenn ich bereits etwas Gutes aufgebaut habe. Es geht darum, eine achtsame und sensible Haltung für die Bedürfnisse anderer Menschen in meinem Umfeld einzunehmen. Und darum, Antworten auf die Frage zu finden: Wie kann ich das Zusammenleben im Verein für alle Beteiligten sowie auch für zukünftige Beteiligte verbessern?
Ein paar Gedankenanstöße:
Der Verein als Schutzraum
Es empfiehlt sich mit allen am Vereinsleben Beteiligten ein Schutzkonzept zu erstellen – idealerweise mit Unterstützung eine:s oder eine:r Fachberater:in, die Mitarbeitende, Kinder und Eltern in dem Entwicklungsprozess begleitet.
In jedem Fall sollte ein solches Schutzkonzept die folgenden Maßnahmen beinhalten:
- Den Verein nach innen und außen positionieren
Mithilfe eines Leitbildes kann der Verein seine Haltung zu Themen wie Prävention, Achtung der Kinderrechte und Partizipation nach außen und innen vertreten. Indem wir anfangen über Machtmissbrauch und Grenzverletzungen zu sprechen und uns dazu zu positionieren, unterstützen wir eine Enttabuisierung des Themas. Auf die Umsetzung des Leitbildes kann durch gemeinsam aufgestellte Regeln, zum Beispiel in Form eines Verhaltenskodexes, geachtet werden.
- Beteiligte auf allen Ebenen sensibilisieren
Mit wenig Aufwand möglich und dennoch effektiv: Das erweiterte Führungszeugnis von allen Mitarbeitenden vorlegen zu lassen. Dies ist im Ehrenamt kostenlos möglich. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Mitarbeitende über Präventionsfortbildungen Schulen zu lassen. In vielen Bundesländern kann man finanzielle Unterstützung für solche Schulungen beantragen. Zudem kann man Kinder und Jugendliche über ihre Rechte und Möglichkeiten zu ihrer Umsetzung aufklären, dabei können auch die Eltern einbezogen und sensibilisiert werden.
- Machtgefälle durch Beteiligung verringern
Kinder und Jugendliche systematisch an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, verringert bestehende Machtgefälle. Und alles, was Machtgefälle verringert, schützt vor Machtmissbrauch und Übergriffen und sind daher gute präventive Maßnahmen!
- Beschwerdewege sichtbar machen
Für den Ernstfall und bei vermuteten Vorfällen gibt es Handlungsleitfäden, die öffentlich sichtbar gemacht werden sollten, damit alle Beteiligten wissen, wo sie Hilfe finden können. Es empfiehlt sich mit externen Fachleuten auf dem Gebiet der Prävention zu kooperieren und sowohl Ansprechpartner:innen innerhalb des Vereins als auch von extern als Kontaktmöglichkeiten anzugeben.
Die Chorprobe als sicherer Lernort
Neben der Vermittlung von musikalischen Kompetenzen, ist die Chorprobe ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche Gemeinschaft erfahren und ihre Persönlichkeit innerhalb der Gruppe entwickeln. Als Chorleitende können wir uns viele Übungen zunutze machen, die neben der Förderung musikalischer Kompetenzen die Erfahrungshorizonte von jungen Menschen erweitern, indem sie das Selbstvertrauen oder die Selbstwahrnehmung stärken. Auch im Warm-Up können wir gezielt Übungen einbauen, die das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe oder die gegenseitige Wertschätzung stärken. Eine weitere Möglichkeit ist es, die Liedauswahl zu nutzen, um beispielsweise über persönliche Grenzen zu sprechen und diese auszudrücken.
Musikalisch-partizipative Methoden
Diese Methoden können ein Weg sein, neben der musikalischen Arbeit in den Proben, Beteiligungsprozesse und Kreativität zu fördern, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen und auf diese Weise Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken.
Ein Konzept, das Chorsingenden mehr musikalische Verantwortung und Möglichkeiten zur Mitgestaltung gibt, ist beispielsweise The Intelligent Choir . Diese Methode verbindet pädagogischen und künstlerischen Anspruch u. a. in improvisatorischen Übungen und ermöglicht Erlebnisse der shared leadership im Chorkontext.
Ebenfalls mit improvisatorischen Ansätzen arbeitet das Singen im Live-Arrangement. Und auch durch das Erlernen und selbstständige Anzeigen der Solmisationszeichen kann ich Chorsingende ermutigen, den Chor zu leiten und so musikalisch mitzubestimmen. Grundlegend bei dem Thema Kindeswohl und Prävention ist schließlich die Haltung, mit der jede:r Mitarbeitende im Verein und auch die Chorleitung den Kindern und Jugendlichen entgegentritt. Meine innere Haltung verkörpere ich automatisch, lebe sie – oft unbewusst – in jeder Handlung mit anderen vor. Als Chorleitung bin ich Vorbild für meinen Chor und präge mit meiner Ausstrahlung die gesamte Probenatmosphäre und auch den Umgang der jungen Menschen untereinander. Es lohnt sich, sich an dieser Stelle immer wieder zu hinterfragen:
- Begegne ich jungen Menschen im Gespräch auf Augenhöhe oder verhalte ich mich manchmal herablassend? In welchen Situationen passiert mir das und warum?
- Ist unsere Probenatmosphäre von Respekt und Wertschätzung geprägt? Oder habe ich oft das Gefühl meckern oder bestrafen zu müssen?
- Bin ich ungeduldig und schnell genervt? Warum und in welchen Situationen ist das so? Verhalte ich mich dann noch respektvoll den Kindern und Jugendlichen gegenüber?
Den Verein und die eigene Arbeit auf den Weg zu bringen, sich stärker mit dem Thema Kindeswohl zu befassen, ist ein Prozess, der seine Zeit braucht und auch brauchen darf, aber nie nachlassen oder aufhören sollte. Jeder kleine Schritt in die Auseinandersetzung mit dem Thema und in die ehrliche Selbstreflektion ist aber ein wichtiger Schritt, den jede:r von uns zeitnah gehen sollte.
Weitere Informationen und Materialien zum Thema Kindeswohl gibt es unter:
http://scv-app/kindeswohl