Ein Blick in die Geschichte eines Verlages aus dem Ländle.
Können Sie sich ein Chor-Jahr ohne Noten des Carus-Verlages vorstellen? Einen Jugendchor ohne „Chorissimo!“? Ihr CD-Regal ohne das Carus-Label? Nein? Wir auch nicht. Darum wollen wir jetzt mit dem regionalsten und internationalsten Chormusikverlag seinen 50. Geburtstag feiern.
Es war einmal ein Kohlenkeller:
Stuttgart, anno domini 1972. Bereits zu dieser Zeit ist das Chorleben in der Landeshauptstadt rege und zählt einige professionelle und viele Amateurchöre. Den Kammerchor Stuttgart von Frieder Bernius gibt es schon, wenngleich er diesen Namen erst vier Jahre später übernehmen wird. Den Motettenchor Stuttgart gibt es auch, wurde er doch bereits 1951 von Günter Graulich gegründet. Und genau jener Günter Graulich, seines Zeichens Kirchenmusikdirektor an der Matthäuskirche, stellt im Bereich der Chormusik immer wieder einen Mangel an Notenausgaben fest. Daran soll es nicht scheitern: zusammen mit seiner Frau Waltraud gründet er kurzerhand einen kleinen Chormusikverlag. Natürlich gibt es damals noch kein eigenes Gebäude: Der blutjunge Carus-Verlag sitzt erstmal ein paar Jahre im Kohlenkeller des Elternhauses. Das erste veröffentlichte Werk ist das Gloria von Antonio Vivaldi. Dass noch 45.000 weitere Werke folgen würden, hätte Herr Graulich damals nicht gedacht …
Kurz darauf wird das Carus Schallplattenlabel gegründet. 1974 bringt die erste Schallplatte Auszüge von Haendels Messiah zum Klingen, gesungen vom Motettenchor Stuttgart unter der Leitung seines Gründers. Wichtig ist den Verlagsleiter:innen nämlich, damals wie heute, dass die Chormusik hörbar gemacht wird. Aus Schallplatten werden im Jahr 1983 Compact Discs. Die erste CD, „Felix Mendelssohn Bartholdy – Hör mein Bitten. Kirchenwerke I“ legt den Grundstein der Gesamteinspielung der geistlichen Vokalmusik Mendelssohns durch Frieder Bernius‘ Kammerchor Stuttgart.
1990 wird für den Carus-Verlag das Graulichsche Elternhaus definitiv zu klein – der Verlag zieht nach Stetten, einem Stadtteil von Leinfelden-Echterdingen. Wer zum ersten Mal hinfährt, muss auf die Karte schauen, wo Stetten genau liegt … aber einmal dort staunt man: aus einer ehemaligen Schreinerei wurde ein dreistöckiges Gebäude mit so großen Fenstern, dass von jedem Büro der Blick auf die umliegenden Felder gelenkt wird. Das große, sehr hohe Lager voller Noten und CDs ist beeindruckend und ein wahres Labyrinth – außer für Carus-Mitarbeitende, denn wenn sie „Matthäuspassion“ hören, rattert das Gehirn schon, in etwa so: „Bach = 31, Matthäuspassion ist BWV 244, also Carus Nummer 31.244, einmal hier rechtsrum und dann fünfter Gang links“. Klingt fast zu einfach – ist es nicht, denn nicht jede:r Komponist:in hat ein Werkverzeichnis und demnach ist nicht jede Carus-Nummer so einfach zu erschließen. Jede:r Lagermitarbeiter:in läuft täglich ca. 12 Kilometer, um die Bestellungen aus der ganzen Welt zusammenzustellen!
Wieso ist der Carus Verlag anders als andere?
Für mich sind Carus-Noten unter anderem bunt: Jahrzehntelang gehörte bei den Klavierauszügen eine Farbe einem Komponisten, was für fröhliche und benutzerfreundliche Bibliotheken sorgte. Außerdem sind sie … leise. Das Papier ist ganz besonders, ermöglicht ein leises Blättern und die Farbe blendet auch bei großen Lichtstrahlern nicht. Ein gesundheitsförderliches Merkmal: die Klavierauszüge von Carus sind leicht. Das Layout ist optimiert, um die Seitenanzahl gering zu halten (Chorsänger:innen, die jemals Bachs h-moll Messe oder Haendels Messias im Konzert gesungen haben, freuen sich, wenn der Klavierauszug statt 920 g nur 650 g wiegt) Schließlich erinnern mich Carus-Ausgaben an meine eigene Zeit im Verlag (2014 bis 2017 im Marketing & internationalen Vertrieb).
Und Sie so?
Ich habe einige Kolleg:innen gefragt, was sie mit Carus verbinden: Leonhard Völlm, Kantor und Organist an der Martinskirche in Stuttgart-Möhringen, schätzt neben der großen Flexibilität den schnellen und guten Service sowie das kompetente Team, das sein Verlagsprogramm kennt. Die Tatsache, dass der Verlag im Schwabenland direkt an der B27 sitzt, ist in der Tat für viele Chorleiter der Region ein Segen. In der großen, lichtdurchfluteten Verlagsbibliothek kann jede:r die Noten anschauen und am Flügel durchspielen, eine Bestellung kann man vor Ort direkt abgeben und – je nach Ausgabe – nach einigen Minuten Wartezeit gleich mitnehmen. Wenn noch am Konzerttag ein:e Musiker:in seine Noten vergessen hat, ist ein Abstecher bei Carus vom Großraum Stuttgart aus möglich und erleichtert so manche Planung. Große Bestellungen abzuholen ist auch nie ein Problem und spart Zeit und Portokosten. Stichwort „Buy local!“ – dieser regionale Bezug ist auch das, was der Verlag menschlich macht und mir von mehreren Kollegen genannt wurde, so auch von Nikolai Ott, Bezirkskantor Tübingen Land, musikalischer Leiter der Kantorei der Karlshöhe in Ludwigsburg und stellvertretender Musikdirektor des Schwäbischen Chorverbandes.
Günter Graulich war selbst Chorleiter, nach wie vor arbeiten im Carus-Verlag viele Berufsmusiker, ausgebildeten Schulmusiker:innen, Musikpädagog:innen, Kirchenmusiker:innen usw. Diese Nähe am Geschehen ist womöglich das Geheimnis hinter vielen konkret unterstützenden Produkten, die der Verlag mittlerweile neben klassischen Noten herausgibt: die carus music App löst das Problem von Chorsänger:innen, die zu Hause zum Üben eine Probensituation kreieren möchten. Die Klavierauszüge im Großdruck, die besonders, aber nicht nur von älteren Sänger:innen sehr geschätzt werden, ermöglichen ein entspanntes Musizieren im Fall von Seheinschränkungen – oder schlechter Beleuchtung im Konzertraum. Ein weiteres Beispiel für das Lösen von alltäglichen Dirigent:innenproblemen sind die Bearbeitungen von Standardwerken des Repertoires für Kammerorchester. Eine Möglichkeit, große Werke aufzuführen, auch wenn das Budget – oder gar die Pandemie – die ursprüngliche Besetzung nicht hergibt.
Chormusik außerhalb des Chores
Vielleicht kannten Sie vor der Lektüre dieses Artikels den Carus-Verlag gar nicht. Oder vielleicht kennen Sie ihn nur als Herausgeber der wunderschönen Bücher des Liederprojektes. 2009 startete dieses Projekt, in Zusammenarbeit mit mehreren Partnern wie Reclam und SWR2, mit einem klaren Ziel: Es muss mehr gesungen werden. Zu Hause, in der Schule, in der Kita, überall – und zwar von Geburt an. Das Liederprojekt war geboren, mit ihm eine Sammlung von Hardcover-Büchern mit schönen Illustrationen, Begleit-CDs, Begleitnotenheften und … einer ganzen Reihe an Best Edition-Preisen. Heute ist außerdem die Website www.liederprojekt.de ein unglaublicher Fundus an Liedern für alle Anlässe und Altersklassen. Auch die Zeitschrift SINGEN unterstützte dieses Projekt indem sie im Jubiläumsjahr in jedem Heft ein Lied aus der Reihe vorstellte.
Singen in der Schule wurde auch schnell ein Anliegen des Verlages, und dieses wurde in erster Linie mit wichtigen und langjährigen Partner:innen verwirklicht. „Chorissimo!“ Wurde in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für die Musizierende Jugend in Baden-Württemberg herausgegeben und ist von der Schulmusiklandschaft nicht mehr wegzudenken. Kleinere Hefte feiern ebenso große Erfolge wie die „Kinderhits mit Witz“ von Peter Schindler – meine Kinderchorkinder lieben diese Lieder: Sie sind kurz, gut komponiert und machen (auch mir) Laune.
Ein Besuch beim Carus-Verlag
Der Carus-Verlag ist ein offenes Haus. Jedenfalls wenn keine Pandemie zur Kontaktreduzierung zwingt. Noch sind die Besuchsmöglichkeiten begrenzt und aufgrund von pandemiebedingter Kurzarbeit und Home Office sind manche Büros nicht dauerhaft besetzt, aber spätestens beim nächsten Choratelier im Herbst 2022 werden Chorinteressierte wieder ins Haus eingeladen. Dann kommen Simon Halsey, Friedhilde Trüün und weitere Experten nach Stetten, es erwartet die Besucher eine ganze Woche voller Workshops und auch eine Führung durch den Verlag ist wieder möglich!
Und morgen?
Seit 50 Jahren hat sich einiges auf der Musikverlagsszene getan … E-mails gab es keine, Websites auch nicht, geschweige denn Apps. Kopierer, Streaming-Dienste: der Fortschritt ist für Musiklabels und Musikverlage Fluch und Segen zugleich. Einen Grund mehr, um sich über diesen runden Geburtstag zu freuen: Happy Birthday Carus!