Wie beim Singen die Unterschiede bereits beginnen und was man dagegen machen kann
Himmlisch. Engelsgleich. Von einer anderen Welt. Weltbekannte Knabenchöre wie die Regensburger Domspatzen, der Tölzer Knabenchor oder die Windsbacher werden gerne mit diesen Adjektiven assoziiert. Was nicht in den überirdischen Klang hineinzupassen scheint: Mädchenstimmen. Gibt es wirklich Klangunterschiede oder sind das alles nur Klischees? Über Traditionen, Kunstfreiheit und Männerdomänen.
Im Jahr 2019 sorgte ein Fall am Berliner Verwaltungsgericht für Furore in den Feuilletons: Eine Rechtsanwältin verklagte den Staats- und Domchor Berlin, einen reinen Knabenchor, weil sie ihre Tochter diskriminiert sah. Als das damals elfjährige Mädchen den Wunsch äußerte im Chor mitzusingen, schrieb die Rechtsanwältin an den Betreiber des Chors. Die Antwort? Klar und eindeutig:
„Ihr Wunsch ist aussichtslos. Niemals kann ein Mädchen in einem Knabenchor mitsingen. Genauso wie eine Klarinette nicht in einem Streichquartett spielen kann.“
Das aber wollte die Mutter nicht hinnehmen und zog vor Gericht. Ihr Argument: Artikel 3 des Grundgesetzes besagt, dass niemand aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden dürfe. Verwehrt man Mädchen nun den Zugang zu Knabenchören, sei darin ein Verstoß gegen die Gleichberechtigung zu sehen.
Die Gegenseite argumentierte mit Artikel 5 des Grundgesetzes: Dem Recht auf Kunstfreiheit. Es war also nun ein Fall, in dem plötzlich das Recht auf Gleichstellung gegen die Kunstfreiheit stand und der an einer jahrhundertealten Tradition rüttelte.
Woher stammt die Tradition?
Um den Fall auch aus musikalischer Sicht zu verstehen, lohnt sich also ein Blick in die Historie: Die Ursprünge des Knabenchores gehen zurück ins Frühmittelalter. Damals war der weibliche Gesang in den Kirchen verboten und so war das Singen in der Kirche lange Zeit zunächst Männersache. Als in zahlreichen sakralen Werken der Tonraum nach oben erweitert wurde, hat man angefangen mit Knabenstimmen zu arbeiten. Seither wurde in vielen Städten an der Tradition der Knabenchöre festgehalten.
Alles also nur Tradition? Nein, denn auch stimmphysiologisch und in der Ausbildung gibt es Unterschiede: Während Jungen in der Regel mit 12 oder 13 Jahren in den Stimmbruch kommen, haben Mädchen mehr Zeit, um ihre Stimme zu entwickeln. In Knabenchören erfolgt die stimmliche Ausbildung also in der Regel deutlich schneller und effizienter. Ein elfjähriger Junge klingt zu einem bestimmten Zeitpunkt anders als ein elfjähriges Mädchen. Hier sind wir bei des Pudels Kern angekommen: Dem Klang. Die Leiter:innen der Knabenchöre argumentieren damit, dass der Klang eines Knabenchors einzigartig sei. Es geht also nicht per se darum, dass Mädchen nicht mitsingen dürften, weil sie Mädchen sind, sondern weil sich ihr stimmlicher Klang von dem eines Jungen unterscheidet.
Spannend übrigens:
Argumentiert man mit dem Klang und den stimmphysiologischen Besonderheiten, geht die Diskussion in eine gänzlich andere Richtung als man das bisher aus dem Diskurs um die männerdominierte Klassik kennt. Dass die Elite-Orchester wie die Berliner Philharmoniker oder die Kollegen aus Wien bis in die 1980er hinein keine Frauen in ihre Reihen aufnahmen, hat mehr mit schlechter Tradition als mit Können zu tun: Denn während es bei Instrumentalistinnen und Instrumentalisten unerheblich ist, welchen Geschlechts jemand ist, spielt es beim Gesang also durchaus eine Rolle. Über das eschlechterverhältnis bei Profi-Orchestern lässt sich bis heute freilich streiten, aber immerhin sind Frauen im Orchester inzwischen ein gewohntes Bild. Die letzte Bastion der Orchester, in denen nur Männer zugelassen sind, findet sich übrigens in der Blasmusik: Besonders in Süddeutschland gibt es noch eine Hand voll Knabenkapellen, in denen Mädchen per se verboten sind. Zeitgemäß? Da es musikalisch keine Begründung gibt, wohl eher nicht.
Wie aber ging der Fall aus Berlin nun eigentlich aus?
Das Berliner Verwaltungsgericht hat die Klage der Rechtsanwältin und ihrer Tochter abgewiesen mit dem Argument, dass in diesem speziellen Fall die Kunstfreiheit höher wiege als das Recht auf die Gleichbehandlung der Geschlechter. Wer sich das Urteil allerdings im Detail anschaut, der stößt schnell auf eine juristische Feinheit: Zwar sollen Mädchen abgelehnt werden dürfen, weil ein Knabenchor einen besonderen Klang hat. Allerdings nicht einfach deshalb, weil sie Mädchen sind, sondern genau genommen, weil ihre Stimmen nicht dem Klangbild des Knabenchores entsprechen. Das Urteil lässt also ein Schlupfloch offen, das in dieser Form wohl von historischer Bedeutung für die renommierten Knabenchöre ist: Denn müsste man laut Urteil ein Mädchen nicht erst einmal zum Vorsingen einladen, um entscheiden zu können, ob ihr Klang nicht vielleicht doch dem des Knabenchors entspricht?
Apropos:
Der Leipziger Thomanerchor hat nach diesem Urteil das Kind der Rechtsanwältin zum Vorsingen eingeladen. Diese lehnte allerdings ab mit dem Argument, dass sie die Voraussetzungen eines geschlechtergerechten Auswahlverfahrens als nicht gegeben ansehe.
Doch damit war der Fall noch nicht vorbei. Im letzten Jahr ging die Rechtsanwältin gegen das erste Urteil in Berufung und zog vor das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Doch auch hier verlor sie. Das Argument des Richters bezog sich im Übrigen auf das eben erwähnte Schlupfloch: Mädchen seien nicht grundsätzlich verboten, wenn sie die klanglichen Voraussetzungen für den Knabenchor erfüllen.
Das Argument der Mutter, dass die bekannten Knabenchöre bessere finanzielle Ressourcen und damit eine höhere musikalische Ausbildung hätten, wurde im Prozess zwar berücksichtigt, aber nicht weiterverfolgt. Dabei ist das in der ganzen Diskussion doch eigentlich der ausschlaggebende Punkt: Es geht gar nicht darum, Traditionen über Bord zu werfen, wenn gleichzeitig alle – egal ob Mädchen oder Junge – die gleichen Chancen auf musikalische Bildung bekämen. Die Wiener Sängerknaben, eine öffentlich finanzierte Institution, geht hier seit geraumer Zeit bereits mit gutem Beispiel voran. Denn neben der Ausbildung für die Jungen gibt es parallel eine Ausbildung für Mädchen und einen Mädchenchor. Chancengleichheit für alle!
P.S.: Kurz vor Druckschluss kam die Meldung heraus, dass ein weiterer Knabenchor mit seiner fast 1.000-jährigen Tradition bricht und nun auch Mädchen eine Ausbildung ermöglicht: Zum Schuljahresbeginn haben 33 Mädchen ihre Ausbildung am Gymnasium der Regensburger Domspatzen begonnen. Die Schulleiterin Christine Lohse begründet diesen historischen Schritt mit der Begründung, dass die Zeit dafür reif sei und es vor allem noch freie Kapazitäten gebe, die man nun allen zur Verfügung stellen wolle. Denn nach dem Missbrauchsskandal vor einiger Zeit sind die Schülerzahlen am Gymnasium der Domspatzen massiv rückläufig: Gab es im Jahr 2015 noch 336 Schüler, waren es 2021 nur noch 265. Mit der Öffnung der Schule für Mädchen will man nun die Kapazitäten der Schule wieder voll ausnutzen. Doch trotz dieses historischen Schritts bleibt eines unverändert: Der Knabenchor bleibt ein reiner Knabenchor. Statt gemischtem Chor wird es für die Mädchen einen eigenen Chor mit eigener Chorleitung und eigenem Probensaal geben.
Ein guter Weg in Richtung Zukunft!