Über Tourismus mit Chören
Ich bin seit 1987 Chorleiter von aktuell sieben Chören mit insgesamt elf Chorsparten und drei Seniorensingkreisen im Großraum Stuttgart. Bereits 1991 kam nach einem ersten gemeinschaftlichen Konzert in der Gaisburger Kirche in Stuttgart die Idee auf, nicht nur gemeinsam mit mehreren Chören aufzutreten, sondern auch mal eine gemeinsame Konzertreise zu veranstalten.
Viele ältere Sänger:innen in der damaligen Zeit schwärmten von den vielen Konzertreisen in den 70er Jahren mit meinen Vorgängern Kurt Brenner und Gotthilf Fischer, die ebenfalls alle einer Chorgemeinschaft vorstehen durften. Also organisierte man – in diesem Falle ich mit zarten 20 Jahren – eine Reise mit drei Chören und insgesamt 150 Sänger:innen nach Budapest. Damals war ich noch Chorleiter des Eisenbahnsingchores Kornwestheim und die Eisenbahner hatten Freifahrten. So entschloss man sich, die Tour mit der Bahn zu machen, was auch damals schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Nun denn!
Mit zwei heute immer noch sehr gut befreundeten Musikerkollegen, Oliver Kern (Klavier / Orgel) und Matthias Klink (Tenor), sowie 150 aufgeregten Sänger:innen ging es dann nach Ungarn, wo wir ein wunderbares Konzert, unter anderem in der Matthiaskirche, zum Besten gaben. Das Publikum war ganz aus dem Häuschen. Die Sänger:innen der drei Chöre verschmolzen bei dieser Reise und beim Konzert zu einem wunderbaren homogenen Chor(klang) und eigentlich auch zu einem viel offeneren „Haufen“, als bei den heimischen Chorproben. Die „harten Kerne“ der einzelnen Chöre übertrumpften sich abends bis in die Morgenstunden mit Vorträgen, lustigen Couplets und Lumpenliedern und alles schien potenziert viel schöner zu sein, als wenn man nur mit einem Chor, der sich schon recht gut kennt, unterwegs ist. So wollten alle 1992 gleich die nächste Tour unternehmen. Dies war also der Anfang unserer kleinen Erfolgsgeschichte „Singen und Reisen“.
Gemeinsame Erlebnisse stärken die Chorgemeinschaft
Dass das gemeinsame Singen ein wunderbares Erlebnis ist, brauche ich hier niemandem zu erklären. Ähnlich verhält es sich auch beim gemeinsamen Reisen: Die ganzen kleinen Macken und Kanten der einzelnen Mitstreiter:innen bleiben beim Reisen auch nicht verborgen und so werden diverse Charaktereigenschaften einzelner Zeitgenoss:innen durch das Reisen weiter bestätigt bzw. noch verstärkt. Dies gilt selbstverständlich auch für die positiven. Ein:e nicht so sichere:r Sänger:in erweist sich vielleicht als hervorragende:r Geschichts-, Wein-, oder Sprachenkenner:in, ein absolut überzeugter, oft etwas arroganter Typ traut sich dagegen vielleicht nicht mal in eine Seilbahn und so weiter. Die positive Atmosphäre innerhalb einer Reisegruppe (auch bei Dauerregen) aufrecht zu erhalten, ist das Ziel eines guten Reiseleiters. Und wie gelingt das unter anderem? Richtig, man singt auch im Bus gemeinsam: Volkslieder, Schlager oder auch mal etwas Vierstimmiges. Warum auch nicht? In diesem Fall hört ja kein Publikum zu.
Ein weiterer Aspekt des Kennenlernens ist natürlich, dass man auf Reisen viel mehr Zeit hat, sich mit seinen Sangesfreund:innen auszutauschen. Alle sind in Urlaubsstimmung und gut drauf, das eine oder andere Glas Wein sorgt für die nötige Gelassenheit und dann gibt es so viel zu erzählen, was aus Zeitgründen nach oder vor einer Chorprobe niemals hätte beredet werden können. Der Alltagsstress um eine wöchentliche Chorprobe herum ist auf Reisen auf einmal weg. Das eine oder andere Missgeschick passiert, wenn man lange beieinander ist: Einige haben auch auf Reisen hinsichtlich ihres Zeitmanagements Probleme – ab und an sind das diejenigen, die auch in den Chorproben mit ihrem
privaten Zeitmanagement Schwierigkeiten zu haben scheinen, manchmal sind aber auch genau diejenigen zu früh oder zu spät, von denen man das auf Grundlage der heimischen Erfahrungen nie erwartet hätte. Man darf natürlich nie vergessen, dass über gemeinsame Erlebnisse oft noch Jahrzehnte später gesprochen wird. Häufig sind es die negativen (!), zum Beispiel Schiff verpasst, fünf Tage Dauerregen, Wasserschaden im Hotel, Platten mit dem Bus; aber auch die positiven bleiben in Erinnerung, wie neben den ganzen touristischen Eindrücken natürlich die besonders geselligen Abende und Nächte.
Musikalische Highlights und interkulturelle Begegnungen
Ein ganz besonderer Höhepunkt ist aber immer ein volles Konzert mit einem fremden, begeisterten Publikum. Man hat also auch im Ausland musikalisch „bestanden“. Vor dem heimischem Publikum, das man schon als eingefleischte Fangemeinde bezeichnen könnte, ist ein Auftritt ja oft ein Kinderspiel, aber vor fremden Menschen zu singen – und dann womöglich nicht einmal in der Landessprache – das ist schon etwas Besonderes!
Nach jedem Auftritt bzw. im Anschluss an das Konzert kommt und kam es zu einem wunderbaren Austausch mit den örtlichen Veranstaltern. Wir organisieren aus diesem Grund schon seit vielen Jahren gemeinsame Konzerte mit einem ortsansässigen Ensemble – das muss gar nicht immer ein Chor sein. Ein gemeinsamer folklore-ähnlicher Abend nach so einem Konzert ist obligatorisch und immer sehr menschenverbindend. So entstanden auch zwischen uns deutschen und allen ausländischen Ensembles immer Freundschaften, die zum Teil Jahrzehnte halten. Ich persönlich sehe dies auch in politisch schwierigen Situationen immer als eine Brücke zwischen den Menschen an, die die Politik niemals schlagen wird und oft leider auch gar nicht will.
Fazit
Nach mehr als 30 Jahren als Chorleiter und Reiseveranstalter und über 100 besuchten Ländern bin ich sehr stolz, abschließend sagen zu können, dass die Chor- und Konzertreisen meine Chöre immer zusammengehalten haben und dieses Konzept aus 1991 komplett aufging. Vielmehr sind Sänger:innen früher schon allein deswegen (also zum Beispiel wegen einer USA-Reise und ähnlichem) in den Chor eingetreten, um mitreisen zu können.
Ich kann nur allen Chören empfehlen, einmal mit einem vernünftigen (und das ist nicht unbedingt der billigste) Reiseveranstalter eine Konzertreise – oder auch nur mal eine touristische Reise zum Beispiel mit einem kleinen Auftritt in einer Kirche – zu machen.
Die Chorgemeinschaft Kai Müller und ihre Reisen
Zur Chorgemeinschaft Kai Müller gehören insgesamt sieben Chöre: Die Chorvereinigung Weil der Stadt, die Chorgemeinschaft Untertürkheim, der Liederkranz Ditzingen, Concordia Schmiden, TonArt Ludwigsburg, der Daimler Männerchor und der Kammerchor. Einen besonderen Stellenwert nimmt bei den Chören der Chorgemeinschaft Kai Müller der musikalische Brückenschlag zwischen den Völkern ein. Der Besuch von nationalen und internationalen Chorfestivals, Konzertreisen und der Austausch mit Künstler:innen anderer Nationen gehören fest zum Programm. So kann die Chorgemeinschaft auf zahlreiche Konzertreisen zurückblicken, unter anderem quer durch Europa, in den USA und auf verschiedenen Schifffahrten. 2023 geht es nach Schottland und Italien, 2024 nach Spanien und Namibia sowie 2025 auf die Azoren. Momentan laufen außerdem umfangreiche Vorbereitungen für eine völkerverbindende Konzertreise nach Nordkorea 2026 mit einem aus 2020 verschobenen Beethovenprogramm.
Mehr Informationen unter https://kai-mueller-choere.de/.
Der Autor ist Chorleiter und Inhaber von MBtouristik Fellbach-Schmiden.