SCV-Musikdirektor Nikolai Ott über mögliche Gründe für sinkenden Zulauf
Das sogenannte „Sterben der Männerchöre“ war schon häufiger Thema in den Musikzeitschriften unserer Szene. Ich frage mich also, ist der klassische Männerchor ein Auslaufmodell? Wenn er es wäre, könnte dieser Artikel hier enden. Ich glaube aber nicht, dass es zwangsläufig so sein muss. Lassen Sie uns einen Blick auf potenzielle Gründe werfen, warum Männerchöre nicht mehr den Zulauf haben, den wir uns vielleicht wünschen.
Chöre als politisches Mittel zum Zweck
In den Satzungen unserer Vereine steht – oft aus juristischen Gründen – der Passus, dass der Vereinszweck unter anderem der Traditionserhalt ist. Sicher ist dies kein illegitimer Grund, in einem Männerchor zu singen. Jedoch hat Bernhardt Schmidt in einem Interview mit der BZ richtigerweise festgestellt, dass viele Männerchöre ihre ursprünglichen Ziele bereits erreicht haben. Die Sängerbewegung geht unter anderem darauf zurück, dass sich im 19. Jahrhundert in den Gesangvereinen Menschen begegnet sind, die politische Ziele des Vormärz (z.B. das Ende der Kleinstaaterei in Deutschland oder umfassendere politische Mitbestimmung) verfolgten ohne von Pedells zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit der Weimarer Republik und spätestens mit Gründung der Bundesrepublik schrumpften erstens die Notwendigkeit und zweitens die gesellschaftliche Relevanz solcher Vereinigungen, die eben auch manchmal Mittel zum Zweck gewesen waren.
Blickt man auf Zelters Liedertafel, war der Männerchor Hort ästhetischen Austauschs der Romantik. Die Mitglieder mussten entweder Poeten oder Komponisten sein und der Verein hatte ein opulentes Regelwerk, was Eingaben, Einzahlungen und Honorierungen für die Mitglieder anging. Auch das scheint sich im 21. Jahrhundert überholt zu haben, denn das Internet bietet mannigfaltige Möglichkeiten, mehr oder weniger ästhetische Diskussionen zu führen und seinen eigenen „Content“ unter das Volk zu bringen.
Singen als Behelf für untalentierte Instrumentalisten
Damit ist das Singen im (Männer-)Chor zu einer reinen Freizeitbeschäftigung degradiert worden. Während es in der Singbewegung vielen Menschen den Weg zu musikalischer Bildung öffnete – ohne für teures Geld ein Instrument lernen und kaufen zu müssen – war es bis vor einigen Jahren auch für einkommensschwächere Familien durchaus möglich und in großen Teilen auch üblich, ein Instrument zu lernen. Diesen Fortschritt haben die Instrumentalmusikverbände zum Teil sehr gut genutzt und ausgesprochen gute Aus- und Fortbildungsangebote geschaffen. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass das Singen im Chor tendenziell unattraktiver geworden ist. Wir als Chorverbände haben bis dato wenig für die Fortbildung von Sänger:innen getan. Ich habe den Eindruck, dass Singen dadurch auch ein wenig an Wertigkeit verloren bzw. auch nie gewonnen hat, frei nach dem Gedanken: „Wer kein Instrument spielt, der kann ja in den Chor, da muss man nichts können.“
Darüber hinaus hat das Bild des Singens auch im Dritten Reich gelitten. Das Wesen des Gesangs ist die Vermittlung eines Textes, und Lieder sind seit jeher identifikationsstiftend. Die Reichspropaganda nutzte dieses Element großzügig aus, Kampf- und Propagandalieder dienten der Gleichschaltung einer ganzen Gesellschaft. Dass diese Praxis von der 68er-Revolution zu Recht kritisiert wurde, ist nachvollziehbar. Dennoch hat man auch hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wie eine liebe Kollegin einmal gesagt hat. Für manch einen 68er wurden Strukturen wie die traditionsreichen Männerchöre gar zu Symbolen der Rückwärtsgewandtheit.
Trauma seit dem Schulunterricht
Und neben diesem Imageproblem kämpften Jungen und junge Männer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend mit der Vorstellung, in der Schule vor der ganzen Klasse singen zu müssen. Ich habe viele Männer erlebt, die während der Mutation von ihren Musiklehrern vor der gesamten Klasse blamiert worden sind. Die sind heute 40 oder 50 Jahre alt und leben seit Jahrzehnten mit dem Stigma „Du kannst nicht singen!“. Damit haben uns auch Generationen von Musiklehrern einen Bärendienst erwiesen.
Doch auch nicht nur von außen, nein, auch von innen heraus hat sich so mancher Männerchor selbst geschadet. Ich kenne einige Notenschränke von Männerchören, die zum Teil an Banalität und musikalischer Einfallslosigkeit schwerlich zu überbieten sind. Wenn sich das mancherorts mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein paart, ist das Desaster nicht mehr weit. Natürlich haben Gesangvereine einen gesellschaftlichen Platz, oft am Volkstrauertag am Kriegerdenkmal. Prinzipiell ist das auch für mich ein Ausdruck gesellschaftlicher Relevanz, doch es ist in meiner Wahrnehmung leider oft der einzige.
Knabenchöre als Wegbereiter
Wenn Sie sich jetzt fragen, warum ich den Männerchor und die Gesangvereine so zerrede, glauben Sie mir vielleicht nicht, dass sie mir wirklich am Herzen liegen. Ich versichere Ihnen: Das tun sie! Ich glaube, wir müssen uns dieses Erbes noch bewusster werden, denn es gibt sie ja, die Männerchöre, die sich heute erfolgreich in dieser Szene behaupten und auch ihren Nachwuchs ziehen. Oft finden wir diese Chöre in Regionen, in denen eine ausgeprägte Knabenchortradition herrscht. Das liegt vermutlich daran, das Jungen und männliche Jugendliche hier einen (in aller Regel) unglaublich positiven Erstkontakt zum gemeinsamen Singen haben. Es sind geschützte Gruppen, in denen Jungs ästhetische Erfahrungen machen, (ohne sich mit Mädchen messen zu müssen, die in diesem Alter einfach andere Interessensschwerpunkte haben), eine profunde Aus- und Stimmbildung bekommen und auch in Mutantengruppen im besten Falle ohne Druck und Blamage durch den Stimmbruch mentoriert werden. Viel wichtiger aber scheint mir zu sein, dass ich in diesem Umfeld Freundschaften, zwischenmenschliche Erfahrungen und soziale Netzwerke bilden, die sehr lange tragen können. Wer diese Erfahrungen gemacht hat, der bleibt in der Regel beim Singen bis zur Bahre.
Gesellschaftliche Relevanz
Wie ich bereits beschrieben habe, geht es auch immer wieder um gesellschaftliche Relevanz. Die politischen Ziele der Sängerväter sind zum größten Teil erreicht, doch es stünde uns gut, zu reflektieren, wo das Chorsingen und unsere Chöre etwas Relevantes für unsere Gesellschaft beitragen können. Das erschöpft sich gewiss nicht am Volkstrauertag. Chöre sind soziale Kontaktflächen und Netzwerke, sie bringen Menschen zusammen: nach innen, weil man sich gegenseitig wahrnimmt und hilft; nach außen, weil man einem Publikum auch mit einem ganz profanen Fest die Möglichkeit gibt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass unsere Gesellschaft nach der Pandemie und sozialen Veränderungen von Rissen durchzogen ist und wir haben ein Werkzeug zur Hand, zumindest ein wenig zu kitten.
Die „erfolgreichen“ Chöre, die ich kenne, sind auch als Gemeinschaft verbunden, durch die Organisation von Events, gemeinsamen Probenwochenenden und gemeinsamen Reisen. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, kollektive Erlebnisse und Erfahrungen, die sie miteinander verbinden. Auch das muss ein Verein im Auge haben.
Und dann ist da noch die Musik. Modern soll man sein, nur was heißt das eigentlich? Wer mich kennt, weiß, dass ich kein sonderlicher Fan von nicht originärer Chormusik bin. Zwar gehört es dazu, Stücke zu singen, die den Sänger:innen aus dem Radio oder den einschlägigen Streamingportalen bekannt sind. Aber es gibt so viel mehr zu entdecken! Stücke, die gar nicht im Radio laufen, und Stücke, die nicht nur für einen Leadsänger gedacht sind.
„In einer Singstunde lernen wir ein Lied“
Ich finde, modern sein bedeutet nicht, aktuelle Popliteratur zu singen, auch wenn das zugegebenermaßen meistens sehr gut ankommt. Unsere Stärken können wir am besten mit Chormusik ausspielen. Das heißt nicht, dass es nicht sehr gute Arrangements gibt, aber ich glaube, davon kann ein Chor auf Dauer nicht zehren. Gute Chormusik gibt es aus allen Epochen, langweilige auch. Interessante Programme sind abwechslungsreich, auch in der Stilistik. Und es lohnt sich, auch andere Konzertformate und -orte auszuprobieren. Das bedeutet aber ehrlicherweise auch, dass das eine gewisse Energie erfordert, von der Chorleitung, vom Vorstandsteam und den einzelnen Sänger:innen. Die Formel „In einer Singstunde lernen wir ein Lied“, die mir ein altehrwürdiger Bass 2 einmal mit auf den Weg geben wollte, funktioniert dann sicher nicht mehr. Auch hier müssen wir für eine sanfte Professionalisierung einstehen. Wer in den Chor kommt, muss tatsächlich nicht viel können. Aber er sollte bereit sein, etwas zu lernen.