Lieber Herr Huther, Körperhaltung, Händedruck, Wortwahl, Mimik und Gestik: Welches ist für Sie das aussagekräftigste Ausdrucksmittel einer Persönlichkeit?
Da haben Sie mir ja den Ball vors Tor gelegt! Für jemanden, der auditiv denkt, ist das natürlich die Stimme. Man hat schon eine gewisse Vorstellung von einer Person, wenn man nur ihre Stimme hört. Aber klar: Wenn man sich im Bus gegenübersitzt, wird man natürlich erstmal schauen und dann hören. Ein Händedruck ist genauso variabel wie die Stimme, wenn man damit umgehen kann. Gerade nur mit der Stimme kann man jemanden sogar beeinflussen, positiv wie negativ. Zum Beispiel, wenn Ihnen jemand was am Telefon verkaufen will. Die schaffen es mitunter, dass man denkt: „Die Person liebt mich so sehr, die meint es sicherlich gut, dann kaufe ich die Waschmaschine eben.“
Welche Parameter an der eigenen Stimme kann man denn beeinflussen? Oder ist er vorgegeben: der laute, der leise Typ, kräftig oder brüchig, piepsig oder brummig?
Eine gewisse Modulierfähigkeit haben wir alle im Instinkt, das können Kinder schon. Bei „Mamaaaa, darf ich? Och bitte, bitte!“ geht die Stimme hoch. Wenn wir Erwachsenehingegen mit kleinen Kindern oder Säuglingen sprechen („Ja wo isser denn?“) signalisieren wir dem Kleinkind mit unserer Sprachmelodie etwas Positives, indem wir mit hoher Stimmlage sprechen, da gehen selbst gestandene Männer mit der Stimme hoch, um intuitiv Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Das hat uns keiner gelehrt, diese Affekte sind uns gegeben. Gerade, weil Stimme und Stimmung zusammenhängen. Der Ausspruch „Es hat mir die Sprache verschlagen“ kommt ja nicht von ungefähr. Im Hebräischen werden übrigens Seele und Kehle mit dem gleichen Wort – naefesch – bezeichnet und hängen dadurch unmittelbar zusammen. Die Stimme ist ein Ausdrucksmittel der Seele, des Befindens.
Was kann man machen, wenn man selbst mit seiner Stimme bzw. ihrem Ausdruck nicht zufrieden ist?
Natürlich kann man sie beeinflussen, dafür gibt’s extra Coaches, die oftmals aufgesucht werden, wenn man zum Beispiel in eine Führungsposition kommt oder als Lehrer Durchsetzungsvermögen braucht. Denn jemand mit einer zarten Stimme wird oft ausgenutzt. Eine Lehrperson mit hoher, fast hysterischer (sich überschlagender) Stimme verliert an Autorität. Wer aber bei „Stopp jetzt!“ seine Brustresonanz einsetzt, gewinnt sie sofort. Das wirkt Wunder, probieren Sie das mal aus. Ich kann dies übrigens auch sehr für den Ehekrach empfehlen! [lacht]
Man muss aber natürlich aufpassen! Die Stimme im Sinne gesteigerter Autorität künstlich tiefer zu machen, kann kontraproduktiv sein. Ich kenne einen Fall, der dadurch seine Tenorstimmlage kaputt gemacht hat. Denn durch kontinuierliches Sprechen in der falschen Lage wird der Stimmapparat falsch trainiert. Das ist in diesem Fall, als würde man dauerhaft versuchen, mit einer Geige Cello zu spielen.
Wenn ich aber doch die Autorität möchte… Kann ich denn die Geige zu einem Cello umbauen?
Beim Singen geht das nur sehr bedingt, sonst könnte ja jeder Sopran auch in der Alt-Lage singen. Fürs Sprechen hingegen kann man zumindest manche Aspekte trainieren. Das eine ist die Muskulatur, das andere sind die Resonanzräume. Für mehr Autorität spreche ich körperlicher. Ein bisschen kann man sich das vorstellen wie bei den Gorillas, die sich auf den Brustkorb trommeln beim Lautieren, um die körpereigenen Verstärker zu aktivieren. Das hat sich Tarzan bei denen abgeguckt und es kommt daher aus dem natürlichen Instinkt, denn die hatten ja keine Stimmbildner.
Wenn es an die Grenzregionen der Stimme geht, wird es aber schnell unglaubhaft. Es gibt schließlich am Telefon auch diejenigen, die ihre Stimme nicht so gut beherrschen, die aufgesetzt sprechen, sich verstellen. Wenn also jemand seine Hardware (Stimme) nicht gut bedienen kann (Software) merkt man sehr schnell, dass dies nicht authentisch ist und kauft die vorhin erwähnte Waschmaschine sicherlich nicht. Manche können es eben besser, manche schlechter. Bei fremden Personen ist es natürlich schwieriger, solche Nuancen rauszuhören, gerade auch, weil wir intuitiv mit der Stimme spielen und sie eben auch als „Waffe“ zur Manipulation einsetzen können. Dafür zentral ist die Naturstimme in Kombination mit der natürlichen Lage. Um die herauszufinden, gibt’s Tricks und Übungen.
Die da wären?
Zählen Sie mal ohne zu überlegen ganz schnell von 100 rückwärts auf Null! Erst tief einatmen und dann so schnell es geht runterzählen. Wenn Sie ungefähr bei 80 angekommen sind, wird sich eine Tonhöhe etabliert haben und daran kann man meist sehen, wo die Naturstimme angesiedelt ist. Viele Männer werden überrascht sein, wie hoch das ist und viele Frauen werden gerade erstaunt sein, wie hoch sie bei 100 angefangen haben, aber dann die Stimme runter ging.
Worauf sollte man achten?
Das erste, das ich Laiensänger:innen klar mache, ist der Unterschied von Singen und Sprechen. Man muss Räume anders nutzen, die Fertigkeit des Kehlkopfes beachten. Da braucht es Technik, denn allein nur mit dem Stimmapparat/Kehlkopf zu singen bringt nicht den gewünschten Effekt. Unser Körper ist das Instrument und das Wort Person kommt aus dem lateinischen Wort „personare“ (hindurchklingen, durchtönen), wir haben also schon immer Geräusche von uns gegeben. Und je mehr wir unsere Resonanzräume einsetzen, desto tragfähiger wird die Stimme. Der Neandertaler an sich hatte ja beispielsweise kein Handy und musste sich daher über große Distanzen allein mit seiner Stimme verständigen, um vor Gefahr zu warnen oder dergleichen, die haben ganz anders lautiert als wir heutzutage sprechen, nämlich eben mit mehr Resonanz.
Um mehr Klang und Volumen in die Singstimme zu bekommen, müssen wir also ein bisschen „back to basic“ gehen und den (Resonanz-)Körper als Verstärker nutzen. Man sollte also nicht so singen, wie man spricht, aber man sollte bitte auch umgekehrt nicht so sprechen, wie man singt – das wirkt theatralisch und unnatürlich. Einer Radiosprecherin, die versucht, mit einer Gesangstechnik zu sprechen, will man nicht wirklich zuhören. Zu affektiert. Für die Bühne mag das eine Nische sein, für den Alltag ist es absolut kontraproduktiv. Das hat im Übrigen alles mit Atmung zu tun. Je nachdem atmet man anders, um Resonanzen zu öffnen und zu nutzen.
Babys sind darin ja wahre Meister…
Ja, Säuglinge sind die besten Opernsänger! Wenn wir auf die Welt kommen, schreien wir ohne Ende, die Obertöne gehen ja durch Wände durch. Ich habe aber noch nie von einem Säugling gehört, der heiser ist. Mit der richtigen Kompression und Atemstütze könnten wir also den ganzen Tag schreien. Sobald wir dem Kind das Sprechen beibringen, entwickelt sich dies zurück.
Als Opernsänger müssen Sie Hauptpartien nicht nur an einem Abend, sondern über viele Wochen und Jahre hinweg ohne Qualitätsverlust bewältigen. Welche Maßnahmen ergreifen Sie dafür?
Professionelles Singen ist Hochleistungssport, zumindest in gewissen Muskelgruppen. Dafür ist Gesundheit in allen Bereichen notwendig: Man muss mit Stress und Druck umgehen, braucht ein belastbares Immunsystem, muss geistig fit sein, um sich zum Beispiel lange Texte und Regieanweisungen zu merken. Heutzutage ist die Fitness noch viel wichtiger als früher. Ein Pavarotti oder Fischer-Dieskau war auch auf Reisen, aber es ging nicht so Schlag auf Schlag. Durch die Globalisierung ist der Beruf definitiv anspruchsvoller und fordernder geworden, seit man heute nach New York fliegt, morgen in Barcelona auftritt und übermorgen in Oslo.
Früher waren die meisten Sänger als festes Ensemblemitglied ortsansässig und sind ins Theater rüber gelaufen, leider gibt es immer weniger feste Stellen und man wird gezwungen, als freier Sänger immer dort zu sein, wo gerade Arbeit ist. Zudem muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass die ganzen wunderbaren Opern zu einer Zeit komponiert wurden, wo die Opernhäuser und Konzertsäle kleiner waren und die Instrumente im Orchester noch anders ausgestattet waren.
Im Barock stimmte das Orchester noch auf 415 Hz, heutzutage sind wir bei 440 Hz, was im Vergleich zum Barock schon fast ein Halbton höher ist. Dazu kommt, dass hohe Töne damals auch von den Gesangsolisten ganz selbstverständlich falsettiert wurden. Hätte Manuel Garcia das hohe C nicht erstmals mit Vollstimme gesungen, hätte sich die Vokalmusik vermutlich ganz anders entwickelt. Die Komponisten haben aber gesehen, was stimmlich möglich ist und sich gedacht: „Hey, dann nehme ich 16 statt 8 Geigen und noch mehr Blechbläser, dann klingt‘s noch toller.“
Die Anforderungen an die Stimme sind also stets gestiegen: Wir müssen höher, lauter und länger singen können als zu Bachs oder Mozarts Zeiten, als die Arien komponiert wurden. Und damit stieg ja auch die Hörerwartung, denn unser Ohr ist ja die heutige Aufführungspraxis gewöhnt.
Man muss sich immer darauf entsinnen, dass wir Opernsänger beim Singen Sport betreiben und die Muskulatur dementsprechend trainieren müssen. Um lange erfolgreich singen zu können, muss man also über viele Jahre hinweg Höchstleistungen erbringen können und die körperliche, geistige und stimmliche Gesundheit mitbringen. Mir fällt da ein Zitat von Enrico Caruso ein, der als der berühmteste Tenor zum Anfang des 20. Jahrhunderts gilt: „Zu einem erfolgreichen Sänger gehören ein großer Brustkorb, ein großer Mund, neunzig Prozent Gedächtnis, zehn Prozent Verstand, eine Menge harte Arbeit und etwas im Herzen“.
Ein Bariton, der bereits jahrzehntelang als Profisänger sein Geld verdiente, antwortete mir mal auf die Frage, wie er das geschafft habe: Ich habe nie Oper gemacht. Was sagen Sie dazu?
Er hat in seinem Falle sicher recht. Ich vergleiche es gerne mit dem Sport: Ein Bundesliga-Fußballer rennt im Alter von 20 Jahren anders über den Platz als mit 25 oder 30. Die Halbwertszeit von Profisportlern ist extrem gering. Der Verschleiß des Körpers und der Stimme – auch wenn man wirklich sehr gesund damit umgeht und eine ausgefeilte Technik hat – lässt sich nicht verhindern, aber herauszögern.
Das Opernbusiness ist sehr hart: Wenn ein lyrischer Sopran nicht die Anlage hat, irgendwann ins nächstschwerere Fach zu wechseln, ist er irgendwann raus, weil er für die Rollen seines Stimmfachs zu alt ist. Dann kommen die nächsten 25- bis 30-jährigen Sopranistinnen. Der von Ihnen angesprochene Bariton meinte vermutlich, dass er seine Stimme durch den Lied- und Konzertgesang entlang der Kopfstimme führen konnte und nie die Stimme forcieren musste; dass er merkte, dass die Oper seiner Stimme etwas abverlangte, was er anatomisch nicht bieten kann, und dann hat er es gelassen. Ein schlauer Kollege!
Leider sind viele Sängerkolleginnen und -kollegen immer wieder im falschen Fach unterwegs, vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen. Die Stimmen werden dann verheizt, ich kann da manchmal gar nicht hinhören, weil mir dies nicht nur im Ohr, sondern auch im Herzen wehtut.
Gerade in der Opernbranche heißt es oft, jemand „singt über seinem bzw. ihrem Fach“. Was ist damit gemeint? Was kann da im schlimmsten Fall passieren?
Ich finde das Fächer- und Schubladendenken grundsätzlich ganz furchtbar. Bestimmte Fächer fordern allerdings bestimmte Voraussetzungen und verlangen dem Körper einiges mehr ab. Die gewünschte Durchschlagskraft in der Stimme muss anatomisch gegeben sein! Sonst singt man über dem Fach, aber das tut man nur für Geld oder wegen eines falschen Beraters. Man ist dann der Gefahr ausgesetzt, dass die Karriere schnell vorbei ist, weil die Gesundheit der Stimme massiv gefährdet ist. Das ist gemeint, wenn jemand „verheizt“ wird. Jede Stimme hat ihre Grenzen, die anatomisch gegeben sind und sich durch das Altern und Hormone auch nochmal verändern können. Es ist eine Gemeinheit der Natur, dass die Muskeln sich im Laufe des Alters verhärten und das Bindegewebe erschlafft. Und die schlechte Nachricht des Tages: Alles, was im Kehlkopf zur Tongebung beiträgt, sind Muskeln und Bindegewebe. Es gibt aber eben auch eine sehr gute Nachricht, denn wie auch am restlichen Körper, kann man dies mit regelmäßigem Training verhindern und hinauszögern.
Bei welchen Anzeichen sollten die Alarmglocken läuten?
Wenn ein Vibrato unruhig oder sehr ausladend wird, ist das zum Beispiel ein deutliches Zeichen, dass Vorsicht geboten ist. Gerade bei Frauenstimmen kann das sehr früh schon kommen, teilweise bereits im Studium. Das ist natürlich eine Gratwanderung, denn die Zeiten haben sich eben geändert: Karrieren entstehen heutzutage über die Oper. Nur Lied- und Konzertsänger zu sein, kann man sich heute kaum noch leisten. Ab kommendem Semester bilde ich als Dozent an der Wiesbadener Musikakademie junge Sängerinnen und Sänger aus. Und was ich ihnen auf jeden Fall mitgeben werde: Man braucht einen Plan B!
In welche typischen Fallen können insbesondere hobbymäßig singende Menschen tappen?
Was beim Profi das Über-dem-Fach-Singen ist, ist im Laienbereich oftmals die Frage nach der richtigen Stimmlage: Ich kenne aus Chören häufig, dass gerade Frauen in der falschen Lage singen. Die meisten singen Sopran, weil es die Melodiestimme ist und damit einfacher als die Altstimme, oder weil sie früher schon Sopran im Jugendchor gesungen haben. Aber die Stimmanlage ist eben oft anders und die Stimme verändert sich. Ich stelle die gewagte These auf, dass es genau so viele Tenöre wie Bässe gibt, dass aber viele nicht wissen, mit ihrer Stimme umzugehen. Viele empfinden einen kopfstimmigeren Ton als unmännliches Säuseln und sagen: „Ich bin Bass!“ Und dann singt man ein paar Töne mit ihnen und in der Tiefe kommt nur heiße Luft. Dabei ist es sogar stimmschädlich, denn wer nicht in seiner natürlichen Stimmlage singt, hat oft mit einem ungesunden Vibrato, Intonationsproblemen oder Nebengeräuschen auf der Stimme zu kämpfen.
Wie kann man sicher sein, in der richtigen Stimmlage zu singen?
Da ist ganz viel auch Einstellungssache. Ich empfehle allen Chorleitern: Stimmen regelmäßig anhören und ehrlich artikulieren, wer ist wirklich was (oder nicht mehr)? Ich habe als Stimmbildner einen Tenor erlebt, der sagte: „Ich bin doch schon immer Tenor!“ Der wäre im Tenor aber mit sehr großer Sicherheit bald aus dem Chor aussortiert worden – und das ist das Furchtbarste, was passieren kann! Er hat gebrüllt, gedrückt, geknödelt. Und diese Störgeräusche helfen weder dem Chorklang noch den Sängern selbst. Den musste ich sozusagen zu seinem Glück zwingen, indem ich ihn „tiefergelegt“ habe, was bei ihm zunächst für großen Unmut gesorgt hat. Später hat er sich im Bass unverzichtbar gemacht und ist mittlerweile der Bass mit der besten Tiefe im Chor. Früher war seine Halsschlagader kurz vorm Platzen, jetzt sieht er zudem viel entspannter aus beim Singen und seine Frau ist darüber sehr glücklich und geht wieder gerne in Konzerte ihres Mannes. Wir haben damals aber wirklich lange und hart diskutiert, er hat sich lange gewehrt. Ein paar Monate später hat er sich unter Tränen bedankt.
Nur weil ein Chor wenig Tenöre hat, darf niemand „gezwungen“ werden, seine Stimme zu missbrauchen. Stattdessen sollte man durch gute Stimmbildung den Chorsängern aufzeigen, wie man die hohe Lage technisch in den Griff bekommt. Dann sind alle glücklich: Die Chorleiter freuen sich über mehr Tenöre und die Tenöre erfreuen sich daran, ein Tenor zu sein.
Lieber Herr Huther, vielen Dank für dieses wunderbare Gespräch!
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