Welche Genres mit dem Label „Jazz- und Popchöre“ gemeinhin zusammengefasst werden, was sie kennzeichnet und ihren Boom erklärt
Schaut man sich die Anmelde- und Teilnehmerzahlen der letzten zehn Jahre beim Deutschen Chorwettbewerb oder dem Deutschen Chorfest an, stellt man fest: Jazz- und Popchöre boomen! Davon zeugen auch die vielen A-cappella-Festivals im In- und Ausland; Großereignisse wie das Aarhus Vocal Festival in Dänemark oder Black Forest Voices bei Freiburg erfreuen sich größter Beliebtheit bei einer wachsenden Zahl von Chören. Aber was sind das eigentlich für Chöre, die diesen Boom bilden? Was heißt, im Chor-Zusammenhang, „Jazz und Pop“? Und woher rührt die unglaubliche Begeisterung, die diese „Schnipschöre“, wie sie gelegentlich etwas verächtlich genannt werden, bei den Aktiven wie auch beim Publikum erzeugen?
Mit dem Label „Jazz- und Popchor“ werden ganz unterschiedliche musikalische Genres bezeichnet: die (eher seltenen) tatsächlichen Jazzchöre ebenso wie Pop-, Gospel- oder gar Barbershopchöre. Ein erstes wichtiges Kriterium für diese inhomogene Gruppe von Chören ist also deren Repertoire, das sich – bei allen Unterschieden im Detail – aus der sogenannten populären Musik speist. Oder, wie es Julian Knörzer, Leiter des Freiburger Popchors Twäng! formuliert: „Die Musik von Popchören ist meiner Vermutung nach näher an den Hörgewohnheiten der Durchschnittsbürger dran.“
Der Reihe nach: Popchöre singen Stücke der Popmusik im engeren Sinne, aber auch Songs aus verwandten Genres wie Rock, Soul, R&B, Jazz, Gospel, Musical und – in Ausnahmefällen – Barbershop. Es handelt sich also um ziemlich zeitgenössische und, im Idealfall, zeitgemäße Songs; oft werden aktuelle Hits oder bekannte Klassiker aufgegriffen, die dem Publikum vertraut sind und zum (lauten oder stummen) Mitsingen einladen.
Gospel hat seine Wurzeln in den afroamerikanischen Kirchen und ist geprägt durch eine starke spirituelle, religiöse Botschaft. Die meisten Gospelchöre legen großen Wert auf die Verbindung zur Tradition und zum kulturellen und spirituellen Hintergrund ihres Repertoires. Aber auch viele Popchöre nehmen Gospelsongs in ihre Programme auf – schließlich besteht eine musikalische Verwandtschaft mit diversen stilistischen Überschneidungen: eingängige Melodien, starke Harmonien, packende Emotionalität und Energie. In der kraftvollen und rhythmisch pulsierenden Natur des Gospels liegt einer der Ursprünge der lebendigen Aufführungskultur vieler Popchöre – dazu aber später mehr.
Jazz ist eine ebenso eigene, aber sehr vielseitige Musiktradition mit einem weniger klar abgegrenzten Repertoire. Jazzchöre sind stärker auf harmonische und rhythmische Komplexität spezialisiert, während Popchöre mehr Wert auf Eingängigkeit und breite Publikumsansprache legen. Aber gelegentlich hält die Jazz-Literatur auch Einzug in das Repertoire von Popchören, z.B. in Gestalt besonders bekannter Jazz-Standards (insbesondere solcher, die in der Popkultur breit rezipiert wurden, wie „Fly Me to the Moon“ oder „Summertime“). Auch gibt es immer wieder „verjazzte“ Arrangements von Popsongs mit entsprechend erweiterter Harmonik und Rhythmik, die die Grenzen zwischen den Genres weiter verschwimmen lassen. Die individuelle Improvisation, ein weiteres wesentliches Merkmal des Jazz, spielt dagegen in der Chormusik in der Regel keine Rolle.
Barbershopchöre bilden tatsächlich ein relativ abgeschlossenes Paralleluniversum in der populären Chorwelt. Diese Sonderstellung verdanken sie nicht nur dem eigenständigen Repertoire, sondern auch der besonderen Klangästhetik des Genres.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Popchöre in Repertoirefragen die größten Freiheiten genießen; sie bedienen sich nach Lust und Laune in den verwandten Genres und haben dadurch auch den größten Song-Pool für die Bildung eines individuellen Profils zur Verfügung. Aber das allein erklärt nicht die phänomenale Begeisterung, mit der viele – auch junge – Menschen in die Jazz- und Popchöre drängen. Natürlich spielt das Repertoire dabei eine Rolle, aber in einem ganz anderen Sinne, als man vielleicht zunächst denken könnte. Carsten Gerlitz, Chorleiter und Arrangeur, fasst es so zusammen: „Wir alle stehen auf Popmusik, weil sie uns emotional berührt.“ Es geht also um Emotionen.
Die populäre Chormusik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einen hoch spezialisierten und beeindruckend professionellen Werkzeugkasten erarbeitet, der alles bereithält, was man braucht, um den emotionalen Gehalt eines Songs zu transportieren. In Stichworten: Repertoire / Programmgestaltung, Arrangement; Sound, Dynamik, Phrasierung, Groove; Performance, Choreografie, Licht- und Tontechnik; Publikumsbindung (PR). Dabei sind, vielleicht auch in Abgrenzung zu klassischen Chören, zwei Besonderheiten hervorzuheben: Die ganze Professionalität soll erstens gerade nicht erkennbar werden; ein guter Popchor möchte, dass es leicht aussieht, einfach klingt, natürlich wirkt. Und zweitens soll die Emotion nicht einfach beim Publikum abgeliefert werden, sondern sie soll dort weiterleben und auf die Bühne zurückkehren; ein guter Popchor möchte mit seinem Publikum interagieren.
Repertoire-Auswahl und Arrangements
Die Repertoire-Auswahl ist, wie oben bereits erwähnt, natürlich extrem wichtig: Die Popchor-Szene lebt von Liedern, die ein breites Publikum längst kennt und schätzt. Ob aktuelle Hits, zeitlose Klassiker oder Blockbuster-Soundtracks – das Wiedererkennen fördert sowohl die Freude am Singen als auch die Begeisterung des Publikums. Und angesichts der Schnelllebigkeit der Popmusik können (und müssen) die Chöre ihr Repertoire jederzeit an den Zeitgeist anpassen und neue Trends integrieren, sodass sie musikalisch immer frisch wirken.
Arrangements sind die entscheidende Nahtstelle zwischen dem Song und dem Chor; kaum ein Popsong kommt in einer ein zu eins für Chöre darstellbaren Gestalt daher. Ambitionierte Ensembles lassen sich ihre Wunsch-Arrangements ggf. „auf den Leib“ schneidern, mit Rücksicht also auf die Stärken (und Schwächen) des Ensembles und mit Blick auf die gewünschte musikalisch-emotionale Stoßrichtung. Ein Arrangement für den Chor, oder, wie Martin Seiler, Arrangeur und Leiter des Augsburger Popchores „Greg is Back“ es etwas überspitzt formuliert: „Wir arrangieren für die Sänger, nicht gegen sie!“
Viele Popchöre legen Wert auf einen modernen und authentischen Sound, der mit einer breiten Palette von Klangfarben und Gesangstechniken arbeitet und seinen Ursprung in der skandinavischen Chorszene hat. Phrasierung und Groove gehen Hand in Hand – und sind immer wieder ein hartes Stück Arbeit, wie Carsten Gerlitz konstatiert: „Die meisten Chorsänger sind ‚klassisch versaut‘; richtig abphrasieren, also so singen, wie wir sprechen – das können nur ganz wenige Chöre!“
Performance und Auftritt
Performance ist das, was aus einem guten einen mitreißenden Auftritt machen kann: Eine lebendige Bühnenpräsenz mit choreografierten Bewegungen und zugewandter Mimik und Gestik, die das als Kommunikation verstandene Gesungene visuell unterstützt. Diesen „Trick“ hat sich die Popchorszene bei den Gospelchören abgeschaut; beide Genres betonen die Gemeinschaft der Singenden mit den Zuhörenden und somit die Interaktion mit dem Publikum. Ein gekonnter Einsatz von Technik tut das Seine: Eine sinnvolle Mikrofonierung, die geschmackvolle tontechnische Unterstützung der Bassstimme und ein Bühnenlicht, das die Stimmung des Songs miterzählt, können durchaus einen Unterschied machen.
Die meisten Popchöre nutzen Social-Media-Plattformen wie YouTube, Instagram, Tiktok oder Facebook, um Termine und Eindrücke ihrer Auftritte und Proben zu teilen. So erlangen sie eine größere Sichtbarkeit und sprechen auch jüngere Zielgruppen an. Hochwertige Medienproduktionen machen die Ensembles auch abseits der Live-Bühnen erlebbar und helfen, neue Mitglieder und Fans zu gewinnen.
Hinzu kommt ein Selbstverständnis der Popchor-Szene, das Tanja Pannier, Sängerin und künstlerische Leiterin von Black Forest Voices, wie folgt beschreibt: „Die Popchorszene ist eine sehr offene Szene, die sehr divers aufgestellt ist und viel Flexibilität in sich trägt.“ Gekennzeichnet durch Gemeinschaft und Vielfalt, mit einer großen Offenheit und getragen vom Wunsch nach einem gemeinsamen Erlebnis. Popchöre sind oft intergenerativ und inklusiv, was ihnen eine besondere Vielfalt an Stimmen und Persönlichkeiten verleiht. Sie verbinden die Tradition des Chorgesangs mit der modernen Popkultur und schaffen so ein musikalisches Erlebnis, das gleichzeitig identitäts- und gemeinschaftsstiftend, zeitlos und zeitgemäß ist.
Repertoire-Ideen mit Links zu Noten und Aufnahmen
Nina Ruckhaber hat für die SINGEN eine Literatur-Hitliste mit ihren Favoriten erstellt und die Empfehlungen mit Links versehen: zu beispielhaften Aufnahmen sowie Händler:innen, die das entsprechende Notenmaterial verkaufen.