Warum Chöre Ensemble-Ausgründungen fördern sollten
Eine aussterbende Art?
Es ist ein Bild voller Nostalgie und Wehmut, das sich dem Besucher der letzten Chorprobe des Männergesangsvereins in einem kleinen Ort in Niederbayern bietet. Alle 14 verbliebenen Mitglieder des vor 107 Jahren gegründeten Vereins haben sich zur letzten Probe versammelt. „Es ist eine Schande,“ sagt ein fast Achtzigjähriger, weißhaariger Herr: „Noch vor 15 Jahren waren wir über 40 Männer im Gesangsverein – aber es kommen einfach keine Jungen nach.“
Damals, so erzählt der Chorleiter mit einer Mischung aus Stolz und Trauer, habe man Säle gefüllt und bei den Messen in der Kirche war der Männergesangsverein nicht wegzudenken. Heute, nach über einem Jahrhundert, endet diese Tradition. Und das nicht nur hier in Niederbayern. „Der Männerchor – eine aussterbende Art?“ So fragte die Mittelbayerische Zeitung bereits im Oktober 2014.
Wechseln wir doch mal die Lebensbereiche. Weg von den mehr oder weniger ambitionierten Hobby-Sängern zu den Profis aus der Wirtschaft. Hier gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Was der Markt nicht braucht, verschwindet. Schaut man sich den Deutschen Aktien-Index (DAX) von vor 30 Jahren an, ist man erstaunt, wie viele Unternehmen heute nicht mehr da sind. Das ist der Lauf der Dinge: Große Unternehmen, die träge und nicht mehr ausreichend innovativ sind, werden von kleinen, agilen und schnelleren Mitbewerbern überflügelt. Sie gehen den Weg alles Menschlichen, sie sterben. Und doch fühlen sich die Gründer und Mitglieder einer solchen Organisation oft ganz ähnlich wie die Mitglieder des Männergesangsvereins: Sie wollen nicht begreifen, dass das, was so lange funktioniert hat, heute nicht mehr gefragt ist.
„Re-Invention“ statt Depression
Sich neu zu erfinden, das ist ein oft gehörter Ratschlag an alternde Organisationen. Doch das ist oft leichter gesagt als getan. Zu stark sind die Beharrungskräfte. Auf innovative Ideen reagiert die Organisation wie ein Immun-System: Das Neue wird bekämpft und abgelehnt. Dabei muss man kein Unternehmensberater sein, um zu verstehen, dass der Wandel allgegenwärtig ist. Und wer sich gegen Veränderung sträubt, der verliert schnell den Anschluss. Mit der Folge, dass man sich noch mehr auf den Status Quo, das „Mia-san-mia“, die „guten, alten Zeiten“ fixiert. Keine noch so lange, noch so erfolgreiche Vergangenheit garantiert aber eine eben solche Zukunft. Die hat langfristig nur, wer sich regelmäßig neu erfindet.
Diese oft erst durch äußeren Druck entstehenden Metamorphosen lassen sich überall in unserer Gesellschaft beobachten: Die Digitalisierung zwingt Verlage und Musikindustrie, aber mittelfristig fast alle Branchen, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken. Die zunehmend bedrohlichere Lage des Weltklimas kombiniert mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima stellt die Energiewirtschaft auf den Kopf. Der Siegeszug des Computers und seiner mobilen Version, des Smartphones, verändert das Kommunikations- und Freizeitverhalten einer Generation von „Digital Natives“.
Diese hat die ganze Welt der Musik per Spotify-Stream zur Verfügung, mixt eigene „Beats“ auf dem Tablet und wird spontan bei der Party mit Freunden zum DJ. Die mobilen Geräte, so ein renommierter Zukunftsforscher „werden zu Körperteilen“ einer neuen Generation, die eigentlich alles mit dem mobilen Endgerät macht: Einkaufen, Musik hören, im Internet surfen, Nachrichten verschicken, spielen, kreativ sein…
Der Chor im Zeitalter der totalen Individualisierung
Stimmt es eigentlich, dass die (jungen) Menschen heutzutage alle „Smombies“ (Smartphone-Zombies) sind? Dass sie nur noch virtuell miteinander kommunizieren? Allesamt von „digitaler Demenz“ (Hirnforscher Manfred Spitzer) bedroht sind, weil der Computer zum Mittelpunkt ihres Universums geworden ist?
Man erinnere sich: Als der Fernseher in die Wohnzimmer des Bürgertums Einzug hielt, waren unzählige Experten sicher, dass die allgemeine „Volksverdummung“ damit unabwendbar sei. Die Geschwindigkeit der ersten Automobile (unter 20 km/h) wurde von Medizinern und anderen „Experten“ als lebensgefährdend eingeschätzt. Und so weiter und so weiter. Jede Neuerung löst bei den Menschen Ängste aus. Die digitale Revolution verändert alles, ist aber nicht der Grund, dass sich traditionelle Vereine schwer tun, Nachwuchs zu gewinnen.
Es ist ein anderes Phänomen, das den traditionellen Organisationen zu schaffen macht. Früher gab es klare Trennlinien, alles war so schön übersichtlich. Konservative und Sozis. Jazz, Rock und Klassik. ARD, ZDF und drittes Programm.
Heute leben wir im Zeitalter der totalen Individualisierung.Märkte sind atomisiert, es gibt 30 Sorten Erdbeer-Marmelade im Feinkostsupermarkt. Alles verändert sich rasend schnell und wo Menschen früher ein Leben lang „beim Daimler“ gearbeitet haben, regiert bei der jungen Generation ein nüchternes Verständnis einer „Leistungspartnerschaft“. Die Arbeitgeber und Markenartikler beklagen die minimale Loyalität, können selbst aber auch keine Sicherheit über Jahre oder gar Jahrzehnte mehr bieten.
Das Industrieunternehmen des 20. Jahrhunderts wurde stets gerne mit einem Orchester verglichen. Der Manager war der allmächtige Dirigent, der aufgrund seines Genies auch die kompliziertesten Werke zur Aufführung bringen konnte. Die Mitarbeiter spielten ihren Part, sie folgten dem Dirigat des Maestro und wenn sie nicht gestorben sind …
Denn das war einmal. Die heutige Organisation gleicht eher einer kleinen, improvisierenden Jazzband oder einem Hiphop-Kollektiv. Solche Teams reagieren flexibel auf die verschiedensten Situationen. Die Mitspieler interagieren. Individuelle Freiheit gehört zum Kern des gemeinsamen Tuns. In der Wirtschaft nennt man so etwas ein Start-up.
Entspricht ein Männerchor eher der Organisationsform Orchester oder dem Typ Jazzband? Nun, die Antwort liegt auf der Hand. Denn ganz unabhängig von der Stilrichtung – hier Jazz – ist eines klar: Mit hierarchischen, starren Organisationen machen sie bei der „Generation Y“ (Jahrgänge 1980-99) keinen Stich. Das bedeutet: Nur wer als Chor mit der Zeit geht, geht nicht mit der Zeit. Mit der Zeit gehen, heißt heute eben auch, dem Individualismus Raum zu geben.
Die neuen Vokal-Start-ups
Große Konzerne haben das Problem der Unbeweglichkeit erkannt. Sie gründen Start-ups mit viel Freiheit. Diese Neugründungen sind gewollte Störer, sie haben die Erlaubnis, den Staub der Jahrzehnte wegzublasen und einen frischen Wind durch die Firmenflure wehen zu lassen.
Wenn man sich Vokalgruppen wie die aus dem Schwarzwald-Dorf Oberried kommenden „Ohrwürmer“ anschaut und anhört, dann sieht man: Die Idee vom „Start-up“ funktioniert auch aus der Vokalmusik-Tradition heraus. Die „Ohrwürmer“ sind eine Ausgründung des MGV Oberried, gegründet im Jahre 1907. Bis heute ist er ein „reiner Männergesangsverein“ und pflegt diese Tradition beim Proben, bei regelmäßigen Auftritten und auf Chorreisen. Das aus einem guten Dutzend Männern bestehende Ensemble „Ohrwürmer“ ist eine Ergänzung und Erweiterung des Vereins: Pop- und Unterhaltungsrepertoire ziehen neues Publikum an. Und natürlich auch neue, interessierte Nachwuchs-Sänger. Als „die älteste Boygroup zwischen Notschrei und Zastler“ machte das Oberrieder Vokal-Start-up schon beim SWR oder mit Profi-Gästen wie den Swingle Singers oder der Kölner Kultgruppe Basta von sich reden.
Ganz egal, ob die 6-12 köpfigen Ensembles, die aus gemischten, Männer-, Frauen- oder Kirchenchören entspringen, Pop, Klassik, Jazz oder auch nur Volksmusik in kleiner Besetzung zum Klingen bringen: Die Gründung von einem oder mehreren Kleingruppen aus dem Chor heraus bietet große Chancen.
Wie schön wäre es also, wenn jeder Chor spätestens zum 10., 25. oder 50. Jubiläum ein neues Vokal-Start-up aus der Taufe heben würde. Auch wenn der Chor schon mehr als ein Jahrhundert alt ist: Es ist nie zu spät, innovativ zu werden.
P.S.: Kleinere Ensembles – größere Verantwortung
Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. So hat der einzelne Sänger bzw. die einzelne Sängerin in einem A-Cappella-Ensemble, in dem er seine Stimme ganz alleine singt, eine höhere, musikalische Verantwortung. Aber auch organisatorisch entfallen in einem kleinen Ensemble mehr Aufgaben auf den Einzelnen. Einfach so in der Masse der Sängerinnen und Sänger mit zu schwimmen, das geht bei einer einstelligen Zahl von Mitgliedern nur schwerlich.
Eigeninitiative ist gefordert
Es ist also nicht nur für die Mutter-Organisation, den Chor, eine Herausforderung, eine Unter-Organisation zu gründen: Auch die Akteure eines Vokal-Start-ups sind gefordert, sich in besonderer Weise einzubringen. Es sind genau diese Reize, diese Diskussionen und Veränderungsprozesse, die ein soziales System leben lassen. Und damit auch zum Überleben des gemeinsamen Singens im Chor entscheidend beitragen.
Florian Städtler, Jahrgang 1970, ist Künstleragent, Blogger, Drehbuch-autor und Eventregisseur. Er lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau, wo er 1995 sein Studium an der Jazz & Rock Schule Freiburg mit einem Diplom in E-Gitarre abschloss.
Über ein Jahrzehnt arbeitete er als Gitarrist und Sänger in verschiedenen Bands und Vocalgruppen. Um die Jahrtausendwende, bewegte sich Florian Städtler langsam aber sicher vom Mikrofon zum Telefon und zur Tastatur, was ihn zu einem erfolgreichen Eventmanager, Texter und Autor machte. In seinem Spezialbereich A-Cappella-Musik arbeitet er für einige der Besten der Szene: The Real Group, FORK, The Swingles, Rockapella, Montezuma, Club for Five, MICappella, Postyr und Les Voice Messengers.
Er ist Gründer und Inhaber der Agentur SpielPlanVier EventMarketing (www.spielplanvier.com) und betreibt unter dem Markennamen A-cappellazone (www.acappellazone.com) eine Künstleragentur und einen Online-Shop. Mit dem Vocal Blog (www.vocalblog.acappellazone.com), seinem „Global vocal music communication baby“ ist er weltweit zum Sprachrohr der A -cappella-Szene geworden. Seit 2012 ist er Vorsitzender der European Voices Association (www.europeanvoices.org).