Warum Mädchen nicht in Knabenchören singen
Vor einem Vierteljahrhundert stellte eine Mutter in einer kleinen Schwarzwaldstadt die vorwurfsvolle Frage: „Ist es eine Strafe, in dieser Stadt als Mädchen geboren zu werden?“ Warum diese Frage? Die Mutter wollte ihr Kind musikalisch und sängerisch fördern – und vermisste vor Ort eine Chancengleichheit für Mädchen und Jungen. Das war nicht immer so!
Beleuchtet man die Chorszene der kleinen Schwarzwaldstadt in den Nachkriegsjahren bis zu den frühen Achtziger Jahren, so gab es eine große Anzahl Erwachsenenchöre mit steigendem Anspruch. Auch die Kinderchorlandschaft war vielfältig, jedoch war der Anteil von Jungen zu vernachlässigen.
Demnach hatte die weibliche Sangeslust vielerlei Anlaufstellen. In diesem Kontext hätte niemand gefragt, ob es eine Strafe sei, als Mädchen geboren zu sein. Selbst in Städten mit einer überragenden Chortradition wie Leipzig und Dresden, wo weltberühmte Knabenchöre existieren, war der männliche Anteil in den gemischten Kinderchören verschwindend gering. Mädchen im Vor- und Grundschulalter sind in der Regel ihren männlichen Altersgenossen in der Singbereitschaft und im Lerntempo deutlich überlegen. Daher ziehen sich Jungen in gemischten Gruppen meist in ihre traditionell eher amusische Rolle zurück und überlassen künstlerische Tätigkeiten wie Singen und Musizieren den weiblichen Gleichaltrigen. So erklärt sich auch das Verhältnis von einem Jungen auf etwa zehn Mädchen in gemischten Kinderchören. Umgekehrt sind übrigens die Verhältnisse beim Informatik-Unterricht.
Um den männlichen Singverweigerern in jener Stadt eine neue vokale Heimat anzubieten (da sich 6- bis 13-jährige Jungen fast nirgends eingebracht hatten), entstand 1983 der Gedanke, einen Chor der bislang passiven Singtalente ins Leben zu rufen: Die Musikschule etablierte einen Knabenchor. Funktioniert das in der Kleinstadt? War das eine aussichtsreiche Perspektive für die Zukunft?
Der Versuch wurde gewagt, und er glückte. Im Laufe der Jahre entstand ein durchstrukturiertes Ausbildungsmodell für Jungen: In drei Jahrgangschören und einem Konzertchor engagierten sich weit über 100 Jungen, was zuvor niemand erwartet hätte. Die Sängerknaben eroberten sich einen festen Platz in der örtlichen und überörtlichen Kulturszene; die anfängliche Scheu, sich als Sängerknabe zu „outen“, wandelte sich im Lauf der Zeit in ein neues Selbstbewusstsein. Auch die Reihenfolge erst Gründung Knabenchor, dann Gründung Mädchenchor hat den Jungen ihre Motivation – weil am Anfang kein direkter Vergleich da war – erhalten. Wenn den Buben bewusst wird, dass ihre physischen Fähigkeiten in geschlechtsspezifischen Formationen zur Gleichwertigkeit oder sogar zu einer Überlegenheit in Ausstrahlung und Stimmgewalt führen können, sind sie schnell zur Identifikation mit leistungsbereiten Ensembles, sprich: Knabenchören, zu bewegen. Ist dann dieses Bewusstsein geweckt, kann von Nachwuchsmangel keine Rede mehr sein. Auch der Wettbewerbsgedanke aus der sicheren Position heraus motiviert hier ungemein.
Weil in jenen Jahren einige Kinderchöre ihre Tätigkeit einstellten, waren es plötzlich vermehrt die Mädchen, die eine sängerische Heimat suchten. Da die Angebote dünner gesät waren, kam eben die oben bereits genannte Frage auf: „Ist es eine Strafe, in dieser Stadt als Mädchen geboren zu werden?“ Das leicht Provokative setzte einen Denkprozess in Gang: Wer konnte die Gleichberechtigung für Jungen und Mädchen in der Singerziehung wieder herstellen?
Hier wurde der örtliche Liederkranz aktiv. Er stellte dem Ausbildungsmodell des städtischen Knabenchores eine ebenbürtige Einrichtung für singwillige Mädchen an die Seite. Damit war die vokale Gleichberechtigung wieder hergestellt und nach wenigen Jahren sangen in drei Nachwuchschören und dem Konzertchor mehr als hundert Mädchen, die aus der Musiklandschaft der kleinen Stadt nicht mehr wegzudenken sind. In mehr als drei Jahrzehnten gingen aus einem Knabenchor zahlreiche Männerstimmen hervor, die in Kombination mit Knaben- oder Mädchenstimmen wieder neue Formationen des gemischten Chorgesangs erlauben. Männerstimmenmangel? Fehlanzeige. Auch zahlreiche neue Ensembles – vom Quartett bis zur Kammerchorbesetzung – sprießen plötzlich aus dem Boden. Eine lebendige Chorlandschaft ist das Ergebnis.
Das Beispiel unserer Schwarzwaldstadt ist natürlich nicht der Normalfall.
Trotzdem: Im Umfeld der Kinderchöre kann die Gründung eines Knabenchors die männliche Singbegeisterung deutlich steigern. Im Endeffekt lässt sich so der chronische Männerstimmenmangel weitgehend beheben. In Knabenchor-Regionen sind Männerstimmen keine Mangelware. Fazit: Wer Männerstimmen braucht, muss Knabenchöre gründen.
Wer ein neues Singwesen gestalten will, sollte bedenken, dass die Jungen hier zunächst (wie auch in anderen schulischen Bereichen) das „schwache Geschlecht“ sind. Im direkten Vergleich ziehen sie den Kürzeren, sind in ihrer Entwicklung ein Jahr oder mehr im Rückstand. Zuerst muss den weniger Prädestinierten ein Vorsprung gewährt werden. Die Reihenfolge – erst Gründung Knabenchor, dann Gründung Mädchenchor – erhält den Jungen ihre Motivation, weil zunächst der direkte Vergleich fehlt. In weniger als fünf Jahren kann ein leistungsfähiger Knabenchor aufgebaut werden. Die Mädchen sind auch bei einem späteren Start in kürzester Zeit für ein gleichwertiges Engagement zu gewinnen, so dass Knaben und Mädchen bis zum Stimmwechsel zum kreativen Kräftemessen gerufen sind. Ein weiteres wichtiges Thema ist das Feld der Stimmwechsler. Wenn die Jungen in dieser heiklen Phase nicht pädagogisch und soziologisch betreut werden, sind sie für das Singen häufig verloren. Hier sind die Gemeinschaft und Zuwendung von entscheidender Bedeutung. Die Arbeit freier außerschulischer Chöre und Ensembles ist im Zeitalter der Ganztagsbetreuung erschwert und mit dem veränderten Schulalltag zu harmonisieren. Aber was Gefahr ist, ist auch Chance. Hier gewinnt das Schlagwort „Kooperation“ eine neue Dimension. So könnte ein gut strukturiertes Singerziehungsmodell innerhalb der Nachmittagsbetreuung für Schule und Kooperationspartner aus Musikschulen und Laienchören für alle Seiten Früchte tragen.
Getrennte Singeklassen haben sich bewährt
Die neu eingerichteten Singklassen haben sich in den zurückliegenden Jahren verlorenes Terrain zurückerobert und bringen erfreuliche Ergebnisse hervor. Im Klassenverband können auch männliche Singmuffel nicht ausbrechen. Allerdings können unmotivierte Sänger die Arbeit stark belasten. Die Konfrontation mit dem anderen Geschlecht verleitet die älteren Jungen zum „Brummen“ oder Oktavieren, da sie das „Singen wie ein Mädchen“ ablehnen. Hier kann die Geschlechtertrennung – wie vergleichsweise beim Sport- und Informatikunterricht – Wunder wirken. Bei Schulversuchen in Frankfurt und Renningen wurde das eindrücklich belegt. Jedoch darf nicht vergessen werden: Die Entscheidung für das Singen fällt in den meisten Fällen in der Kindergarten- und Grundschulzeit. Daher sollte bevorzugt hier das zumeist lebenslang anhaltende Interesse für das Singen geweckt werden.
In Kitas und Kindergärten ist das gemeinschaftliche Singen wohl am unproblematischsten. Ab der Grundschule sind Mädchen- und Jungensingklassen (einer Jahrgangsstufe) sehr zu empfehlen, da die Jungen – anfänglich eher im Rückstand – gezielt an selbstbewusstes Singen herangeführt werden können. So gibt es für alle ungeteilte Erfolgserlebnisse.
Es lebe die duale Singerziehung!