Stimmbildung im Chor
Vielleicht ist Ihnen das Nachsingen im Chor oder in der Stimmbildung auch schon einmal schwergefallen? Oder Sie hatten den Eindruck, bei einer bestimmten oder einem bestimmen Stimmbildner:in hat das besser oder schlechter geklappt? Warum ist das so und welche Faktoren beeinflussen das? Man könnte meinen, es hänge vom Geschlecht des/der Stimmbildenden bzw. des/der Gesangslehrenden ab. Können Mädchen im Kindesalter besser Frauen nachsingen und Jungen besser einem Mann?
Die Stimme: das vielleicht intimste Instrument, das ein Mensch haben kann. Kein anderes Instrument ist so persönlich, so zu 100 Prozent das Eigene. Man kann sie nicht ausleihen oder wechseln, wenn sie einem nicht gefällt. Sie ist direkter Ausdruck von Emotion.
So persönlich, einzigartig und individuell jede menschliche Stimme ist, so ist es auch der Zugang zum Singen und der eigenen Stimme für jede Sängerin und jeden Sänger. Ein so individuelles Instrument braucht auch eine ganz individuelle Ausbildung.
Eine große Verantwortung
Diese Ausbildung beginnt im Idealfall im Kindesalter. Kinder singen von selbst und ganz intuitiv, das sollte in Krippe, Kindergarten und Schule gefördert werden. Doch wie begegnet man als Ausbilder:in der Kinderstimme? Judith Wiesebrock, Sängerin, Stimmbildnerin und Kinderchorleiterin, betont die große Verantwortung, die in der Hand der Chorleiter:innen und Stimmbildner:innen liegt. Vieles hängt davon ab, wie man mit den Kindern arbeitet, denn es kann auch einiges kaputt gemacht werden.
Kinder singen nach – alles, was man ihnen vorsingt. Sie können nicht unterscheiden, ob eine Übung gut oder schlecht für sie ist. Das muss der/die Vorsänger:in wissen und entscheiden. Auch die richtige, gesunde Stimmlage ist wichtig, um die Kinderstimme nicht zu sehr zu beanspruchen. Judith Wiesebrock hat die Erfahrung gemacht, dass die 3 – 5-Jährigen ohne Singerfahrung einer Frau meist besser nachsingen können als einem Mann. Das hängt mit der Tonlage zusammen, aber auch mit der Kehlkopfspannung, selbst wenn ein Mann im Falsett vorsingt, ist diese eine andere. Einer Gruppe Grundschülern mit viel Singerfahrung ist es – nach einer kurzen Eingewöhnung – egal, ob ein Mann oder eine Frau den Ton angibt.
Die Mischung ist wichtig
Jan Martin Chrost ist Bezirkskantor im Bistum Limburg, Kinderchorleiter und stellvertretender Musikdirektor der Chorjugend im SCV. Er hat aus diesem Grund als Ergänzung eine weibliche Stimmbildnerin in seinem Team, denn neben der Chorprobe sollte auf jeden Fall Stimmbildung statt-
finden. Er leitet den Kinder- und Jugendchor St. Martin Bad Ems und sagt, dass es vor allem sehr wichtig ist, dass man bewusst und gut vorsingt. Entscheidend ist dabei, ein adäquates Vorbild zu sein, sich klarzumachen, dass die Kinder alles imitieren.
Meist benötigen die Kinder grundsätzlich eine kleine Eingewöhnung, was aber weniger an Geschlecht oder Stimmlage des Leiters/der Leiterin als mehr an der Person selbst liegt. Wahrscheinlich kann eine Stimmbildnerin einfacher das Singen einer weiblichen Stimme nachvollziehen und ein Stimmbildner die Veränderungen, die eine Knabenstimme durchmacht. Unter Umständen ist es das, was dann auch zum Wohlfühlen in Stimmbildung und Unterricht, gerade bei Kindern, beiträgt. Dies ist aber nicht zwingend stimmlich notwendig, sondern eher psychologisch, mutmaßt Jan Martin Chrost.
Wichtig für die Kinderstimmbildung ist der natürliche Zugang zu Stimme und Singen und, dass die Selbstverständlichkeit zum Singen gestärkt wird. In den meisten Elternhäusern wird immer weniger gesungen, sodass Bildungseinrichtungen oder die Vereine und Kirchengemeinden diese Lücke füllen müssen. Hier kann die Motivation der Kinder zu Singen gesät werden, dass sie Gesang als Ausdrucksweise für sich entdecken und erhalten.
Eine Frage des richtigen Alters
Je älter und besser dann die kleinen Sänger:innen werden, desto mehr Gesangspädagogik muss in den Unterricht, die Stimmbildung oder die Chorprobe einfließen, so Chrost. Die Methode, mit der unterrichtet wird, hängt dann stark vom Lerntyp ab und womit man die Kinder erreichen kann. Da gibt es kein Patentrezept, das für alle funktioniert.
Als professionelle Sängerin hat Judith Wiesebrock gelernt, selbst zu wissen, was ihre Stimme und deren Entwicklung im jeweiligen Lebensabschnitt braucht. So hatte sie viele Jahre Gesangslehrerinnen, hat sich aber zuletzt ganz bewusst einen Mann als Lehrer gesucht. Das hatte aber weniger mit der Stimmlage selbst, als mit der Art und dem Menschen zu tun, erklärt sie, es passt einfach zu ihren momentanen stimmlichen Bedürfnissen.
Judith Wiesebrock erzählt, dass ihr als Gesangslehrerin das Unterrichten von Mädchen und Frauen leichter fällt, da dies intuitiver passiert. Sie macht sich bei einem männlichen Gesangsschüler mehr Gedanken über die Technik und darüber, wie sie diese vermitteln kann. Beim Unterrichten von diversen Personen ist vor allem die Wahl der Literatur inhaltlich herausfordernd, da ja eine Identifikation mit dem Gesungenen stattfinden soll. Hier muss der/die Lehrende gegebenenfalls etwas länger auf die Suche nach etwas Passendem gehen. Auch hier gilt es, behutsam und einfühlsam zu sein. Wichtig findet sie vor allem, ein Gefühl von Selbstbestimmung und Freiheit zu vermitteln – und das bei jedem Schüler und jeder Schülerin.
Vor allem muss ein:e Lehrer:in laut Wiesebrock authentisch sein. Der Unterricht bzw. die Stimmbildung muss sich für Lehrende und Lernende in jeder Beziehung gut anfühlen, dann kann der Schüler oder die Schülerin locker und entspannt und dennoch mit Körperspannung singen. Vertrauen ist hier das Schlüsselwort: „Es ist irrelevant, ob männlich oder weiblich, es braucht jemanden, dem man vertraut, bei dem man frei singen und die Stimme frei schwingen kann“, so Judith Wiesebrock.
Demnach ist nur die lehrende bzw. leitende Person an sich wichtig, nicht aber deren Geschlecht. Jan Martin Chrost und Judith Wiesebrock kommen zum gleichen Schluss: Lehrende auszuprobieren ist wichtig und richtig. Denn an die Bildung der Stimme, das intimste Instrument, sollte man nur jemanden lassen, bei dem man sich menschlich und musikalisch wohlfühlt.