Viola Kramer über das Komponieren für Wettbewerbe
Unter dem Motto „Our Voice for Our Planet“ hat der neue Kompositionswettbewerb für Frauen „Females featured“ 2022 stattgefunden (mehr darüber auch in SINGEN 3/2023). Die prämierten Chorstücke erden am 18. Juni 2023 auf der Bundesgartenschau in Mannheim uraufgeführt. Eine der Preisträgerinnen in der Kategorie „Jugendchor“ ist Komponistin Viola Kramer mit ihrem Stück „Mutter Erde“. Wir haben mit ihr über das Komponieren von Auftragswerken, über Wettbewerbe und Altersgrenzen, über Frauen in der Musik und über den Erhalt unseres Planeten gesprochen.
SINGEN: Frau Kramer, Komponieren ist schon seit etlichen Jahren Teil Ihres Lebens. Was macht das Komponieren für Wettbewerbe so besonders?
Viola Kramer (VK): Wettbewerbe sind eine Herausforderung: Gefragt wird ein bestimmtes Format, was einem manchmal liegt – oder nicht. Wenn es einem nicht liegt, kann man entweder die Herausforderung liegen lassen – was ich meistens tue – oder versuchen, neue Wege zu gehen und ein unbekanntes Format zu bearbeiten. Mir gefällt das: Ich mag Aufgaben, Herausforderungen. Und ich mag Teamarbeit! Wenn eine Regie etwas Bestimmtes will, einen bestimmten Style wie Hip-Hop zum Beispiel, recherchiere ich und mache etwas, was ich nie im Leben aus mir heraus machen würde. Und am Ende gebe ich meine Handschrift dazu. Bei Wettbewerben ist das ähnlich: Bei einer Komposition für Streichquartett werden bei meiner Komposition zwar die Bedingungen erfüllt, aber dann müssen die Geigen plötzlich mittendrin singen oder aufstehen oder performen. Egal, wenn das den Rahmen sprengt, dann fliege ich eben raus.
SINGEN: Sie komponieren für akustische Instrumente, aber auch für Synthesizer und für Ensembles aus sowohl akustischen als auch elektronischen Instrumenten. Schreiben Sie gerne für Chor und warum?
VK: Meine Chorleidenschaft liegt in der Familie. Mein Vater leitete und begleitete Chöre, mein Bruder singt im Domchor München und in weiteren Profi-Chören. Mich faszinierten immer schon ethnische Gesänge und alles, wozu die Stimme fähig ist: Tierstimmenimitation, Human Beatbox und vieles mehr. Daher habe ich auch im Nebenfach Gesang studiert, was mir aber dann zu eingleisig wurde, weil ich nicht mehr mit meiner Stimme experimentieren durfte, zum Beispiel wie die Inuit im Aus- und Einatmen singen.
Die Grenze zur Sprache ist die Linie, die mich beim Gesang interessiert. Die Arbeit mit Schauspieler:innen ist für mich sehr spannend, weil dort die Grenze von Melodie und Prosodie verschmilzt. Ich mag es außerdem, Chorelemente aus aller Welt mit einfließen zu lassen. Es ist einfach genial, wie Menschen überall auf der Welt eine verschiedene Chorästhetik entwickelt haben. In mir verschmelzen die verschiedenen Stile zusammen und ergeben ein neues Ganzes.
SINGEN: Der Wettbewerb „Females Featured“ hatte zum Motto „Our Voice for Our Planet“. Was löst dieses Motto in Ihnen für Ideen und Gefühle aus?
VK: Von Januar 2017 bis September 2021 habe ich 147 Demonstrationen gegen den Bröckelmeiler Tihange (Belgien) organisiert, der im vergangenen Februar endlich abgeschaltet wurde (https://5vor12site.wordpress.com). Ich habe bei der Organisation des Protestes viel gelernt. Dieser Protest war aber eine rein private Sache und ich habe versucht, meine beruflichen Kompetenzen außen vor zu halten. Außerdem deckten diverse Liedermacher und Geiger dieses Segment der „Protestmusik“ gut ab. Da wollte ich mich nicht dazwischen gesellen, weil mein musikalischer Protest eher drastisch und bombastisch ausgefallen wäre – was wiederum nicht unbedingt förderlich für die Bewegung an sich gewesen wäre.
Aber ich bin ein politischer Mensch,und ich liebe DADA-Orchester-Experimente und Circle-Singing. 2019 entstand ein sehr schöner Circle-Song zum Thema „Lasst uns die Erde schützen“. Er wurde mit 40 Mitwirkenden auf dem ersten Festival „Sounds für Climate“ realisiert, mit Instrumenten und Gesang. Als dann zu „Our Voice For Our Planet“ aufgerufen wurde, war ich traurig, dass dieser Song schon veröffentlicht war. Also musste ein neues Werk her.
Schon immer hatte ich dem „Vater unser“ ein „Unsere Mutter“ entgegensetzen wollen. Jetzt war dafür die Gelegenheit. Es wurde dann „Mutter Erde“. Bei diesem Text habe ich meine ganzen Erfahrungen und Kenntnisse aus meiner Demo-Zeit mit einbringen können und einen musikalischen Dank an das Wichtigste formuliert, was wir haben: unsere „Mutter Erde“. Eigentlich müsste sich die Menschheit einzig und allein nur noch DIESEM einen Thema widmen. Sonst gehen wir unter.
SINGEN: Was halten Sie von Wettbewerben, die gezielt auf Frauen ausgerichtet sind?
VK: Bei Wettbewerben speziell für Frauen haben wir mehr Chancen – oder vielleicht überhaupt eine. Es ist immer auch Glück dabei, und Dabeisein ist bei Wettbewerben nicht alles. Werke wollen aufgeführt werden!
Frauen sind karrieretechnisch eher später dran mit ihren musikalischen Ambitionen als ihre männlichen Kollegen, außer in der Klassik vielleicht. Während Jungs sich mit 16 Jahren Instrumente kaufen, eine Band gründen, sechs Monate später ihren ersten Auftritt beim Schulfest haben und dann danach mal über Musikunterricht nachdenken, üben Mädchen vier Jahre lang Schlagzeug und nehmen Unterricht und wenn sie dann gefragt werden, ob sie für einen verletzten Schlagzeuger beim Schulfest einspringen könnten, lehnen sie ab, weil sie „noch nicht gut genug sind“. Leider sehr typisch.
Mit der Band „Double-X-Project“ haben wir im Jahr 1985 und in den darauffolgenden Jahren als junge Frauen viel auf den damaligen „Frauenfestivals“ getourt und dort die Erfahrungen nachholen können, die unsere Kollegen sieben bis acht Jahre früher gemacht haben. Heute sind reine Frauenfestivals wohl eher selten geworden.
SINGEN: Was wünschen Sie sich von Wettbewerben?
VK: Für Frauen ist es sehr wichtig, dass die Altersbegrenzung bei Wettbewerben entfällt. Sie sind sowieso eher spät dran, dann kommen Kinder, die betreut und ernährt werden müssen und schon ist man über der Altersgrenze. Tröstlich war für mich der Spruch des damaligen Vorsitzenden des Deutschen Komponistenverbandes, Hermann Große-Schware: „In unserer Branche ist man mit Mitte sechzig ein vielversprechendes Nachwuchstalent!“
Der Verband ist übrigens vor kurzem in „Deutscher Komponist:innenverband“ umbenannt worden. Und zwar gegen erhebliche Widerstände. Bei der Umbenennung stört mich der Doppelpunkt ausnahmsweise gar nicht. Und wem bekannt ist, wie rückständig beispielsweise die GEMA in puncto der adäquaten Anrede weiblicher Werkschaffender ist, freut sich über so eine Aktion sehr! Komponierende Frauen? Exotisch! Doch auch bei der GEMA wird es zunehmend besser.
SINGEN: Was wünschen Sie sich für die Chormusikszene der nahen Zukunft?
VK: Ich wünsche mir mehr Improvisation, mehr gemeinsames Erschaffen eines Werkes, wie es in vielen Regionen der Welt der Fall ist. Die Pflege jeglichen Liedgutes und klassischer Kompositionen wird praktiziert – und das ist sehr schön! Doch mittlerweile gibt es auch einige sehr interessante Ansätze für eine neue Art des Chorsingens.
SINGEN: Vielen Dank, liebe Frau Kramer!