Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Pop- und klassischem Gesang und was Chöre ausprobieren können
Die Welt des Gesangs ist extrem vielfältig. Vom Barock bis hin zur Romantik und Moderne findet man bereits eine riesige stilistische Bandbreite. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich zudem abseits der klassischen Musik Stile entwickelt, die im Allgemeinen als „Popularmusik“ bezeichnet werden. Unter diesem Oberbegriff (abgekürzt Popmusik) wird also all das zusammengefasst, das zu den Genres Jazz, Pop, Rock, Chanson, Musical, etc. gehört. Hier soll es nun um den Popgesang gehen – im Chor sowie solistisch. Der Artikel richtet sich bewusst auch an klassische Sänger:innen und Chöre, die sich mit Popgesang auseinandersetzen wollen; er beleuchtet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten und soll praktische Tipps geben, um den Übergang zu erleichtern.
Der sichtbarste Unterschied zwischen den zwei Welten: Im Popgesang wird in der Regel mit Mikrofon gesungen, im klassischen Gesang nicht. Dies erlaubt es den Popsänger:innen, die dynamische Bandbreite ihrer Stimme voll ausschöpfen zu können, während ein:e klassische:r Sänger:in mit dem reinen Stimmvolumen einen Raum füllen und neben einem Orchester bestehen können muss. Dies setzt immer eine gewisse Grundlautstärke voraus.
Wie wird die Lautstärke im klassischen Gesang erzeugt? Neben Atem- und Stimmtechnik sowie dem Singen in einer durchsetzungsfähigen Lage lautet die Antwort: Nutzung der Resonanzräume und Vibrato. Im klassischen Gesang werden alle körpereigenen Resonanzräume voll genutzt, so dass sich der Ton bildlich gesprochen rund um den/die Singende:n ausbreitet. Das stimmeigene Vibrato hilft dabei, dass der Ton im Raum trägt und sich ausbreiten kann. Im Popgesang hingegen versucht man, möglichst den kompletten Ton ins Mikrofon zu leiten. Dabei spricht man im Fachjargon von „Fokus“. Vibrato wird auch hier eingesetzt, allerdings nur als Stilmittel, z.B. am Ende eines langen Tones. Da Resonanzräume und Vibrato nicht zur Lautstärkegenerierung genutzt werden müssen, ist man im Popgesang freier, was die Gestaltung des Tons anbelangt. Hinzu kommt, dass die Persönlichkeit der Sänger:innen mehr im Vordergrund steht und der individuelle Stimmklang als ausdrucksstark und schön empfunden wird.
Höhere und tiefere Frequenzen
Grundsätzlich haben alle Menschen einen individuellen Tonumfang und einen individuellen Stimmklang. Das gilt für die Sprechstimme wie für die Singstimme. Im klassischen Gesang liegen die Partien meist im höheren Bereich des Stimmumfangs, da die höheren Frequenzen einer Stimme die durchsetzungsfähigeren sind. Im Popgesang wird die Stimme meist etwas tiefer eingesetzt, da die höheren Frequenzen durch das Mikrofon verstärkt oft zu scharf klingen. Die große Gemeinsamkeit ist die Atem- und Stimmtechnik, da alle Sänger:innen, egal aus welchem Genre, auf ihre Stimmgesundheit achten müssen. Dies verhindert Stimmprobleme und hilft, die Töne zu kontrollieren. In beiden Genres wird mit einer Mischung aus Brust- und Kopfregister gesungen, also mit äußerer und innerer Spannung der Stimmlippen. Als äußere Spannung bezeichnet man die Spannung der Stimmlippen selbst, die als Muskel kontrahieren. Unter der inneren Spannung versteht man die Spannung, die auf die Stimmlippen durch das Kippen des Kehlkopfs ausgelöst wird. Dies kann man übrigens fühlen – bei Männern deutlicher als bei Frauen – indem man während des Registerwechsels die Hand leicht auf den Hals im Kehlkopfbereich legt.
Was bedeutet das im Chor?
Die oben genannten Punkte für Sologesang gelten auch im Chorgesang – mit einigen Einschränkungen. Sowohl im klassischen Gesang als auch in der Pop-Literatur herrschen im Chor stärkere formale Strukturen, d.h. die Sänger:innen müssen exaktere Regeln befolgen. Was im Sologesang als künstlerische Freiheit erwünscht ist, stört im Chor oftmals, da kein homogener Chorklang entsteht. Dies gilt zunächst einmal in allen Genres. Schaut man genauer hin, erkennt man dennoch Unterschiede. Die großen Chorwerke der Klassik wurden in der Regel von den Komponist:innen selbst arrangiert. Im Pop hingegen finden sich vom gleichen Lied zig Bearbeitungen für Chor (in den unterschiedlichsten Besetzungen und Schwierigkeitsgraden) von völlig unterschiedlichen Arrangeuren. Dieselbe Komposition klingt deswegen in einem anderen Arrangement völlig anders. Dies wiederum führt dazu, dass sich ein:e Chorleiter:in mehr Freiheiten in Bezug auf das Arrangement nehmen darf. In einer Bach-Kantate würde man sich niemals trauen, etwas zu verändern, da die Noten das Einzige sind, was Bach von diesem Werk hinterlassen hat. In einem Popsong nimmt man ohne zu zögern Veränderungen vor, wenn einem am Arrangement etwas nicht gefällt oder wenn man während des Probens merkt, dass der Chor eine Stelle im Song rhythmisch oder harmonisch anders besser lösen könnte.
Von der Lebendigkeit und dem Groove
Hat man im Popchor mehr Freiheiten bezüglich der Präzision beim Singen? „Jein“ – und zwar deshalb, weil Popchor ein weites Feld ist. Es gibt Chöre, z.B. im Jazz, die eine ähnliche Präzision wie im klassischen Chor unbedingt einfordern. Im Gospel oder auch in der „Sing-Mit“-Szene hingegen findet man oftmals Gruppen, die weniger Wert auf Präzision legen. Hier soll das Ergebnis absichtlich etwas freier und wilder sein, manchmal auch Raum für Improvisation lassen, so dass jede Aufführung verschieden sein darf.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Popchor ist der Rhythmus, der „Groove“. Während man im klassischen Chor die drei musikalischen Säulen Melodie, Harmonie und Rhythmus meist als ungefähr gleichberechtigt ansetzen kann, ist in der gesamten Popmusik die wichtigste Säule der Groove. Im Popchor müssen deswegen alle Sänger:innen den gleichen Puls spüren können.
Noch ein Wort zur Performance: Ein klassischer Chor singt in der Regel nicht auswendig. Das wäre auch keine gute Idee, denn dies kann bei der geforderten Präzision nur schief gehen. Im Popchor sieht die Sache etwas anders aus. Oftmals schnipsen oder klatschen die Sänger:innen im Rhythmus, im Showchor kommen noch Choreografie und Tanz hinzu. So entsteht Interaktion mit dem Publikum und der Vortrag wird lebendig.
In einer Zeit, in der Musik mehr denn je wichtig ist, um die Menschen zu verbinden, sind interdisziplinäre Ansätze nicht nur willkommen, sondern notwendig, um das kulturelle Erbe zu bewahren und gleichzeitig Raum für Innovation zu schaffen. Die Verbindung von Pop und Klassik ist deswegen nicht nur möglich, sondern erschafft eine faszinierende Symbiose aus beiden Welten.
TIPPS FÜR KLASSISCHE CHÖRE
• Verlassen Sie Ihre Komfortzone! Chorleiter:innen und Mitglieder sollten bereit sein, sich mit neuen Stilen, Techniken und Repertoire auseinanderzusetzen.
• Organisieren Sie Workshops mit erfahrenen Popsänger:innen! Improvisation kann klassisches Stimmtraining bereichern und die Flexibilität der Sänger fördern.
• Wählen Sie ihr Repertoire sorgfältig aus! Beginnen Sie mit einfachen, einprägsamen Popsongs, die den Sänger:innen Spaß machen. Gut funktionieren z.B. Evergreens wie „What A Wonderful World“, in denen harmonisch, melodisch und rhythmisch etwas steckt.
• Keine Angst vor der Mikrofontechnik! Die Nutzung von Mikrofonen ist in Popchören nicht zwingend notwendig. Im Amateurbereich reichen ein gut klingender Konzertraum sowie ein Mikrofon für Solist:innen.
• Wenn Sie Ihre Sänger:innen davon überzeugen können, integrieren Sie einfache Bewegungen! Sie helfen zum einen, die Darbietung lebendiger zu gestalten, zum anderen unterstützen eine gemeinsame Schrittfolge oder rhythmisches Klatschen dabei, den Groove zu fühlen.
• Ermutigen Sie die Chormitglieder, eigene emotionale Geschichten mit den Songs zu verbinden! Ein solches Gefühl zeichnet Popgesang oftmals aus. Die Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen Genre eröffnet Chören eine faszinierende Möglichkeit, ihre musikalischen Horizonte zu erweitern. Obwohl sich Pop- und klassischer Gesang in vielerlei Hinsicht unterscheiden, bieten gerade diese Unterschiede wertvolle Chancen.